Untot mit Biss
Möglichkeiten, mit ihm fertig zu werden.«
Der Wind flaute langsam ab, und zu viel Adrenalin ließ mich am ganzen Leib erbeben. Mit zitternden Knien stand ich auf und wankte dorthin, wo Pritkin an der Wand stand, von Mirceas Macht festgehalten – allerdings sah er jetzt nicht mehr so aus, als würde er hindurchgedrückt. Blut rann mir übers Gesicht und tropfte auf den Kragen meines Bademantels, aber ich achtete nicht darauf. Im Vergleich zu Tomas war ich erstaunlich gut davongekommen. Eine ziemlich mitgenommene Version meines früheren Mitbewohners durchsuchte Pritkin nach Waffen. Die halb abgetrennte Hand hatte bereits damit begonnen, wieder mit dem Arm zu verwachsen – ich sah, wie sich Sehnen und Bänder neu formten. Doch das Gesicht war verbrannt, und offenbar funktionierte nur ein Auge. Ich schauderte, als ich den Ausdruck darin sah: Der Magier schien nur deshalb noch am Leben zu sein, weil Tomas überlegte, welche Hinrichtungsmethode ihm die größten Schmerzen bereiten würde. Ich sah zu Mircea, dessen Miene kaum beruhigender wirkte. Jener Mircea, den ich kannte, war immer ruhig und fast sanft gewesen, hatte mir verschwurbelte Geschichten und grässliche Witze erzählt. Er warf sich gern in Schale und war sich nicht zu schade, mit einer in ihn verknallten Elfjährigen endlos Dame zu spielen. Ich hatte Pritkins Naivität nicht geteilt und gewusst, dass die Wahrheit viel komplexer war. Mircea war an einem Hof aufgewachsen, wo Mord und Grausamkeit zur täglichen Routine gehörten. Der eigene Vater hatte zwei seiner Brüder als Pfand für ein Abkommen verwendet, an das er sich gar nicht halten wollte. Er war gefoltert worden und hätte vermutlich ein schreckliches Ende gefunden, wenn nicht der Zigeuner gewesen wäre. Solche Erlebnisse ließen nicht viel Platz für Anteilnahme. Trotzdem, es existierte eine sanftere Seite, nicht wahr? Um ganz ehrlich zu sein: Ich war mir nicht mehr sicher. Als Kind hatte ich mich von Mircea nie bedroht gefühlt. Er war heiter und gelassen gewesen, mit freundlichen braunen Augen und Lachfalten in den Augenwinkeln. Doch jetzt bot sich meinen Blicken ein ganz anderer Mircea dar. Hatte sein schreckliches anderes Selbst immer unter der Oberfläche gelauert? War ich nur zu blind gewesen, es zu sehen? Jetzt sah ich es ganz deutlich, und dadurch entstand ein Problem. Sosehr ich Pritkin auch verabscheute, ich wollte ihn nicht tot. Er mochte verrückt sein, aber ich brauchte ihn: Er sollte mir erklären, was mit mir passierte; oder er sollte mir den Kontakt mit jemandem ermöglichen, der es mir erklären konnte. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. »Töten Sie ihn nicht, Mircea«, sagte ich, und das »Sie« erschien mir angemessener als jemals zuvor. Damals, als Kind, hatte ich keine Distanz gespürt, aber jetzt schien es einen breiten Graben zwischen uns zu geben.
»Wir haben nicht die Absicht, ihn umzubringen,
Mademoiselle«,
antwortete Louis-Cesar, hielt aber einen wachsamen Blick auf Mircea gerichtet. Tomas hatte dem Magier unterdessen alle Waffen abgenommen, zumindest die sichtbaren. Ich glaubte, dass er noch über viele weitere verfügte, und mein Armband schien der gleichen Ansicht zu sein. Es glühte warm am Handgelenk und fühlte sich schwerer an als noch vor einigen Minuten. Ich hätte es gern abgelegt – es kam mir immer unheimlicher vor –, aber dies war wohl kaum der geeignete Zeitpunkt. »Seit der vergangenen Nacht sind wir im Krieg gegen den Dunklen Kreis, und wir wollen nicht auch gegen den Silbernen kämpfen.«
»Seien Sie vorsichtig«, sagte Rafe neben mir. »Vergewissern Sie sich, dass er wirklich unbewaffnet ist.«
»Ein Kriegsmagier ist nie ganz unbewaffnet«, erwiderte Mircea.
»Bis zu seinem Tod«, fügte Tomas hinzu, und ich stellte fest, dass er ein zappelndes Messer in der unverletzten Hand hielt. Er bewegte sich schnell wie der Blitz – vermutlich gefiel ihm die Ironie, Pritkin mit seiner eigenen Waffe umzubringen –, aber Louis-Cesar war noch einen Hauch schneller. Er hielt Tomas’ Hand dicht vor Pritkins Brust fest.
»Tomas! Ich lasse nicht zu, dass du einen Krieg beginnst!«
»Wenn Sie dem Geschöpf dort Zuflucht gewähren …«, Pritkin spuckte fast in meine Richtung, »… sind Sie mit uns im Krieg, ob Sie wollen oder nicht. Ich bin hierher geschickt worden, damit ich herausfinde, was sie ist, und ich sollte sie eliminieren für den Fall, dass sie eine Gefahr darstellt. Ich habe erwartet, nur eine Kassandra vorzufinden, eine
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