Untot mit Biss
versuchte, mir eine Antwort einfallen zu lassen, die für Mircea einen Sinn ergab. Ich dachte an die vier Senatswächter, die getötet worden waren. Sie schienen Hunderte von Jahren bei der Konsulin gewesen zu sein und hatten ihr sicher gute, treue Dienste geleistet, denn sonst wären sie nicht mit dem Schutz des Senatsraums beauftragt gewesen. Die Entscheidung, sie zu verraten, war vielleicht gar nicht von ihnen gekommen: Die Sibylle hatte ihre Verwandlung manipuliert, und Rasputin war ein mächtiger Meistervampir, vielleicht dazu imstande, ihren Gehorsam zu erzwingen. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie aus freiem Willen beschlossen hatten, mich vor dem Senat anzugreifen – es war praktisch auf Selbstmord hinausgelaufen.
Das Vampirgesetz war recht einfach, wenn auch ein wenig mittelalterlich: Die Absicht spielte keine annähernd so große Rolle wie vor menschlichen Gerichten. Niemand scherte sich darum, warum man etwas machte. Wenn man Probleme verursachte, war man schuldig, und der Schuldige musste büßen. Wenn man einen Disput mit einem anderen Meister hatte, konnten die eigenen Leute eingreifen, um einen zu retten, vorausgesetzt, man war nützlich genug, damit es die Mühe lohnte. In dem Fall kam es zu einem Duell, oder man bot Entschädigung an. Aber bei einer Bedrohung des Senats half nichts mehr. Es gab keine höhere Instanz, an die man sich wenden konnte. Nach nur einer Minute gab ich den Versuch auf, das unglaublich komplizierte Gewand der Frau zu enträtseln. Ich streifte den Unterrock über, der zwar recht dünn war, mich aber wenigstens bedeckte. Ich holte die Schuhe unter dem Bett hervor, saß dann auf der Bettkante und blickte verärgert auf sie hinab. Hohe Absätze waren also keine moderne Erfindung. Ich konnte kaum glauben, dass Frauen diese Folterinstrumente schon seit Jahrhunderten ertrugen.
»Möchtest du, dass ich dir helfe,
Dulceatà}«
Mircea zeigte mir ein pfauenblaues Kleid, von dem ich annahm, dass die Frau es irgendwann früher getragen hatte. »Es ist eine Weile her, seit ich Zofe gespielt habe, aber ich glaube, ich erinnere mich daran.«
Ich sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Und ob er sich erinnerte. Selbst nach fünfhundert Jahren erinnerte sich Mircea vermutlich an alle Boudoirs, in denen er gewesen war. Als er mir in das schwere Gewand half, sagte ich: »Du vergisst, dass es noch einen anderen Weg durch die Zeit gibt, selbst wenn die Sibylle stirbt.«
Ich fühlte seine warmen Hände an den Schultern, als er das Gewand hochzog. Er rückte den tiefen Ausschnitt zurecht, und seine Finger verharrten auf der bloßen Haut. »Die Pythia ist alt und krank, Cassie. Sie stirbt bald.« Ich sah zu ihm auf und erkannte Zärtlichkeit in seinem Gesicht, aber auch Unerbittlichkeit. Mircea war zu dem Versuch bereit, mich von seinem Standpunkt zu überzeugen, ohne meinen in Erwägung zu ziehen. Er hatte bereits entschieden, wie er vorgehen würde: die Sibylle finden, sie töten, heimkehren. Eine sehr praktische, aber auch absolut kaltblütige Denkweise. »Aber ich habe noch ein langes Leben vor mir«, erwiderte ich. »Oder beabsichtigst du, nach Radus Rettung auch mich zu töten?« Mirceas blaue Augen wurden größer, aber es lag nichts von Louis-Césars Unschuld in ihnen. Seine Hände drehten mich, damit sie die Schnüre am Rücken erreichen konnten. »Ich habe es dir gesagt,
Dulceatà:
Du gehörst mir, und zwar seitdem du elf gewesen bist. Du wirst immer mir gehören. Und niemand fügt dem Schaden zu, was mein ist. Du hast mein Wort.«
Es klang auf erschreckende Weise nach Tomas. Ich hatte natürlich gewusst, dass er mich so sah. Jeder Meister sah einen menschlichen Bediensteten auf diese Weise, als einen Besitz. Was mich betraf: Ich war ein nützlicher und daher wertvoller Besitz, und damit hatte es sich. Dennoch, ich fand es nicht sehr entzückend, es auf diese Weise zu hören. »Und wenn ich dir nicht gehören will? Was ist, wenn ich selbst entscheiden möchte, was ich tue und was nicht?« Mircea gab mir einen toleranten Kuss auf den Kopf. »Ich kann dich nicht schützen, wenn ich nicht weiß, wo du bist.« Als er mit den Schnüren fertig war, drehte er mich erneut um und hob meine Hand zu den Lippen. Seine Augen brannten heller als die Kerzen im Zimmer. »Das verstehst du doch, oder?«
Und ob ich verstand. Ich sah ein Leben als Leibeigene eines Kreises, des Senats oder von Mircea persönlich. Auch wenn meine Fähigkeiten Respekt und Einfluss brachten, wie er sagte: Die
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