Untreu
Mona in den letzten Monaten fürchten gelernt hatte: verwirrt, angstvoll, in sich gekehrt, blass unter seiner Sonnenbräune. Über den Tisch hinweg nahm sie seine Hand. Er zuckte zusammen und versuchte, sie ihr zu entziehen, aber Mona ließ nicht locker. Er braucht Stärke, hatte die Therapeutin ihr gesagt. Ihre Stärke. Sie müssen unerschütterlich und konsequent sein. Für ihn.
Unerschütterlich. Was für ein Wort. Aber sie versuchte ihr Bestes.
»Zu Hause sind Herbi und Lin und Papa und ich. Wir sind alle da. Da gibt's keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
»Ich will nicht mehr in die Schule.«
»In der Schule sind deine ganzen Freunde.«
»Die sind alle bescheuert.«
»Blödsinn. Da ist der Martin und der Gerhard, die haben dich beide immer wieder besucht, als es dir schlecht gegangen ist. Das sind deine Freunde. Die stehen für dich ein. Die kannst du nicht enttäuschen, indem du einfach wegbleibst.«
Glücklicherweise servierte Bill in diesem Moment ihr Essen und den Wein. »Very nice, very crispy chips for the young man«, sagte er und lächelte Lukas an, als spürte er, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Als wollte er ihn beruhigen. War Lukas' Zustand selbst für Fremde schon so augenfällig, oder verfügte Bill einfach über eine besondere Sensibilität für Menschen, die Probleme hatten? Mona hoffte Letzteres und war ihm dankbar, und einen Moment lang mochte sie ihn fast gut leiden, obwohl sie ihm von Anfang an übel genommen hatte, dass sie als Antons Gefährtin für ihn immer Luft gewesen war. (So sind die Griechen halt, lautete Antons lapidare Erklärung, die in Monas Augen keine war.)
Aber letztlich war es ja egal, wie Bill sie behandelte. Für Lukas war er gut gewesen, Lukas hatte sich in seiner Gegenwart augenscheinlich immer wohl gefühlt, und das war es, was letztlich zählte: Lukas und sein Befinden, das sich unbedingt stabilisieren musste, und zwar bald, damit er nicht wurde wie...
»Hey.« Anton sah sie über den Tisch hinweg an. Lukas schlang mit gesenktem Kopf die Pommes in sich hinein und sah aus, als nähme er nichts um sich herum wahr. »Geht's dir gut?«
»Ja, sicher.« Mona nickte mehrmals, als wollte sie sich selbst überzeugen.
»Dann iss was. Dein Souvlaki wird kalt.« Anton hob sein Weinglas, und sie stießen an. Nicht auf den letzten Abend ihres Urlaubs. Sondern einfach nur so.
Das Anwesen der Belolaveks hätte nun auch der fähigste Gärtner nicht mehr retten können. Der nasse, verwilderte Rasen, die unkrautüberwucherten Beete waren in den letzten sechs Stunden von mindestens vierzig Stiefelpaaren fortwährend malträtiert worden und hatten sich - wozu der anhaltende Regen seinen Teil beitrug - in eine sumpfige, flutlichtbeleuchtete Matschlandschaft verwandelt. Polizisten ließen Leichenhunde in jeden Winkel schnuppern, unter jedem Baum, jedem Strauch wurde Erde ausgehoben, denn konnte man wissen, ob nicht die gesamte Familie Belolavek hier ihr Grab gefunden hatte?
Noch wusste man fast nichts. Die halb verweste Leiche im Geräteschuppen war geborgen worden, sie war nur hauchdünn mit Erde bedeckt gewesen, und es handelte sich um einen Mann. Alter noch ungewiss. Todeszeitpunkt noch ungewiss, aber mindestens zwei Wochen her. Morgen würde die Leiche im Institut für Rechtsmedizin obduziert werden.
Auch das Haus war grell erleuchtet für eine gespenstische Party. Sechs Tatortleute in unförmigen weißen Plastikoveralls, ausgerüstet mit einem Durchsuchungsbeschluss (in diesem Fall eine bloße Formalie, da sie das Papier niemandem hatten präsentieren können), filzten Schränke, Kommoden, Keller, Speicher, Bäder, Abstellkammern, Schlafzimmer, Wohnzimmer. Sie fanden keine weitere Leiche, keine Spuren von Gewalt oder Zerstörung, kein Blut - jedenfalls kein sichtbares. Sie nahmen Proben aus allen Räumen, den Teppichen, Handtüchern, Kleidern, Nasszellen, um sie im Labor untersuchen zu lassen. Mit einem Ergebnis konnte man frühestens morgen rechnen.
Außerdem waren sechs Beamte der MK 1 mit Hans Fischer als stellvertretendem Leiter und Martin Berghammer als Chef des Dezernats elf anwesend und die von der Pressestelle alarmierten Journalisten. Sie standen seit Stunden, gemeinsam mit den vielen anderen Schaulustigen, die sich von Kälte, Dunkelheit und schlechtem Wetter nicht hatten abschrecken lassen, an der weißroten Absperrung vor dem Gartenzaun. Sie filmten, fotografierten, telefonierten mit ihren Chefredakteuren, scharten sich um Berghammer oder seinen
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