Unvergessen wie Dein Kuss
Truhe war angefüllt mit Kleidungsstücken. Da waren Ausgehkleider, Kleider für den täglichen Gebrauch, Abendkleider, Umhänge und Handschuhe. Ein Stapel von nach Lavendel duftendem Stoff in Pastellfarben, dazu kleine Accessoires. Isabella erinnerte sich daran, dass India stets blasse Farben und einen zurückhaltenden Stil bevorzugt hatte. Es war schon seltsam, ihre gesamte Garderobe hier aufbewahrt zu sehen. Die Kleider schienen blass und leblos – sozusagen wie der Geist von India selbst. Am Boden der Truhe stapelten sich Bücher mit erbaulichen Fabeln, Predigten und Gedichten.
Die zweite Truhe förderte all die anderen Dinge zutage, die die Geschichte von Indias Leben erzählten. Da gab es Berge von Seidenstrümpfen, Unterröcke mit Spitzenstickerei, Mieder und Korsetts. Weiter unten fielen Isabella eine Anzahl Notenblätter auf, die an den Ecken etwas vergilbt waren. Ein weicher Beutel enthielt filigrane Silber- und Goldketten. Einen Malkasten mit Stiften und ausgetrockneten Farben fand sich neben einem leeren Spannrahmen für Stickereiarbeiten. Isabella beschlich ein beklemmendes Gefühl, unwillkürlich kamen ihr die Tränen. Wie traurig es doch war, die Hinterlassenschaft von Indias Leben so vor sich ausgebreitet zu sehen, alles etwas abgenutzt und von dem Geruch nach Mottenkugeln durchdrungen …
Isabella richtete sich enttäuscht auf. Trotz der vielen Dinge, die von Indias Leben Zeugnis ablegten, war kein einziges wirklich etwas Persönliches – oder gab auch nur einen Hinweis auf das, was geschehen war.
Plötzlich ertönte ein Klicken, als etwas aus den Falten eines seidenen Taschentuches herausrollte und mit einem leichten Klirren auf den Holzfußboden fiel. Isabella hob den Gegenstand auf. Es war ein silbernes Medaillon. Sie hielt inne. Es zu öffnen erschien ihr wie ein unzulässiges Eindringen, aber sie wollte die Miniatur darin sehen. Vielleicht war es ein Aquarell von Lady Jane oder von Lord John … vielleicht aber auch ein Bild von Marcus … Die Möglichkeiten ließen ihr das Herz bis zum Hals schlagen, aber jetzt war sie sicher, dass sie nachsehen musste, selbst wenn es ihre schlimmsten Befürchtungen über Marcus und India bestätigen, ja wenn es ihr das Herz brechen sollte.
Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Verschluss löste. Das Scharnier war etwas fest und bewegte sich nur widerstrebend, aber das Medaillon gab dennoch sein Geheimnis preis.
Das Bildnis zeigte tatsächlich einen jungen Mann, in der auffallend roten Uniform der Armee Seiner Majestät. Er zeigte ein verwegenes Lächeln, selbstsicher, mit einem fröhlichen Augenzwinkern … Man konnte sich vorstellen, wie er daherstolzieren konnte mit dem Wagemut eines Mannes, der wusste, dass er alles nehmen konnte, was er begehrte, und der der Welt unbekümmert entgegentrat …
Mit einem leichten Erschrecken, so als ob ihr ein Spinngewebe über das Gesicht strich, erinnerte Isabella sich an etwas anderes: der gut aussehende junge Leutnant, der sich ihr und India dreizehn Jahre zuvor in dem Ballsaal vorstellte.
Er hatte mit Isabella als der älteren Cousine gesprochen, aber sein Blick war die ganze Zeit über auf India gerichtet. Sein offenkundiges Interesse hatte Isabella irgendwie fasziniert, denn es war nicht oft geschehen, dass ihre stille Cousine sie in den Schatten stellte. Sie war sogar etwas beleidigt gewesen, was nur natürlich war. Aber dann hatte der junge Mann sich tief vor India verbeugt und sie um den nächsten Tanz gebeten, und Isabella hatte verständnisvoll gelächelt, als sie sah, wie die beiden sich entfernten und nur Augen füreinander hatten.
Den jungen Offizier hatte Isabella nur dieses eine Mal gesehen. Bis jetzt hatte sie sogar völlig vergessen, dass er derselbe Mann war, der ein Jahr später in den Ballsaal gekommen und so unsanft hinausgeworfen worden war. Er war der Mann, der sich mit India heimlich getroffen hatte, der Verehrer, den ihre Eltern offenbar fortgeschickt hatten.
Isabella ließ sich schwer auf die Kante einer der Truhen nieder. Das Geschrei der Seevögel drang gedämpft an ihr Ohr, zusammen mit dem Pfeifen des Windes und dem Rauschen der Wellen in der Ferne. Eine Haarlocke löste sich aus dem Medaillon und fiel nach unten auf den Fußboden. Isabella beugte sich nieder, um sie wieder aufzunehmen. Das Haar war fein und weich wie Kinderhaar. Es war flachsblond, heller als Indias Haar, auch heller als Isabellas Haar zu ihrer Kinderzeit gewesen war. Ein kleines blaues Band hielt die Locke
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