Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
so ironisch war wie gewöhnlich.
Olivia konnte nicht nachdenken. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, Informationsfetzen wirbelten herum wie in einem Kaleidoskop, Farben und Formen prallten aufeinander und bildeten immer neue Muster, die keinen Sinn ergaben. Bis auf eines: Chambers war tot.
»Armer Diccan«, sagte Lady Kate und schüttelte mit einem ironischen Gesichtsausdruck den Kopf. »Er erwartet lediglich, sich um eine kleines Feuer und ein bisschen Vandalismus kümmern zu müssen. Wenn er hier ankommt, haben wir vermutlich schon auf Einbruch und Pest erhöht.«
Olivia betrachtete die drei unbeugsamen Damen, die sie umgaben. Sie waren ihre Freundinnen, hatten ihren Ruf aufs Spiel gesetzt, um sie zu schützen, und sie hatte im Gegenzug Mord und Gewalt in ihr Haus gebracht. Sie hätte beinahe gelacht. Sie war der Meinung gewesen, die größte Gefahr würde von Gervaise ausgehen.
»Jack hat recht«, sagte sie. »Sie alle sind erst in Sicherheit, wenn wir beide verschwunden sind.«
Lady Bea sah Lady Kate mit flehentlichem Blick an. »Anathema.«
»In der Tat«, erwiderte Lady Kate. Ihre Miene wirkte Respekt einflößend. »Die Idee ist undenkbar. Ich werde mir etwas anderes überlegen.«
Olivia wusste, dass sie sich schämen sollte. Sie fühlte nichts als Erleichterung über Lady Kates Gnadenfrist. »Vielleicht hat Mr Hilliard Informationen, die uns helfen können zu verstehen, was los ist«, schlug sie vor. »Vor allem über« – sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter – »Chambers.«
»Sie dürfen dem Earl nichts davon erzählen«, warnte Grace.
Mit einem müden Seufzen erhob Olivia sich. »Ich würde es nicht wagen. Wenn schlechte Neuigkeiten ein Gehirnfieber auslösen können, würde die Nachricht von Chambers Tod ihn auf der Stelle umbringen.«
Jack stand am Fenster und blickte hinaus, als könne er seine Angreifer zufällig beim Spaziergang im Parc Royale wi edererkennen. Die Sonne stand hoch am Himmel, und Straßenhändler und Hausfrauen waren unterwegs. Da unten sah alles so verflucht gewöhnlich aus, und in diesem überladenen, schicken Haus hing immer noch der Gestank von Rauch.
Was hatte er getan, um so etwas heraufzubeschwören? Wie war er jemals einem Menschen namens Billy, der Axtmann, begegnet? Einem Menschen, der kein Problem damit hatte, Feuer zu legen und alles zu zerstören, was ihm in die Quere kam?
Er konnte nicht länger tatenlos hier oben ausharren und darauf hoffen, dass seine Erinnerung irgendwann wie durch ein Wunder von allein wiederkam. Eine weitere Nacht wie die gestrige, als er quälend lange Momente Angst gehabt hatte, Livvie vielleicht nicht lebend die Treppe hinunter und aus dem brennenden Haus zu bekommen, würde er nicht überstehen.
Was wäre, wenn ihr etwas zugestoßen wäre? Wie hätte er damit weiterleben sollen?
Und dann hatte sie in einem so großzügigen Moment, dass es ihn erschütterte, in seinen Armen geschlafen, sodass er sich zum ersten Mal, seit er bei Bewusstsein war, ausruhen konnte.
Sie beschützte ihn vor irgendetwas. Er konnte den Schatten sehen, den es warf, wenn sie ihm eine seiner Fragen nicht beantwortete.
Er wollte nicht länger erlauben, dass sie diese Last trug. Wenn er sie auf sich nehmen wollte, durfte Livvie ihm das nicht verwehren.
Er hatte lange genug am Fenster gestanden, um zu beobachten, wie unterhalb von ihm ein Gentleman die Stufen zur Eingangstür hinaufgestiegen und eingelassen worden war. Er wünschte sich, er hätte gewusst, wer der Mann war, doch der Blickwinkel war ungünstig gewesen. Er spielte mit dem Gedanken, nach unten zu gehen und es herauszufinden, als er mit einem Mal einen Hauch von frischer Luft und Äpfeln wahrnahm.
Livvie war da.
»Danke, Liv«, sagte er und blickte noch immer in den Park hinaus. »Ich habe gestern Nacht besser geschlafen als in allen Nächten zuvor, seit ich aufgewacht bin.«
Es dauerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Ich bin nicht geblieben, damit du mir später dankst«, erwiderte sie steif.
Er konnte es ihr nicht übel nehmen. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, wandte er sich ihr schließlich zu. »Liv«, sagte er, als er ihre Miene bemerkte, »was ist passiert?«
Ihre hübschen braunen Augen waren dunkel vor Trauer und Sorge. Sie stand so angespannt vor ihm, als kostete es sie all ihre Kraft, sich zusammenzureißen. Er wusste nicht, was er anderes für sie tun konnte, also trat er zu ihr und schlang seine Arme um sie. »Was ist denn
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