Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
aufhält?«, fragte Olivia.
Grace sah noch immer Richtung Süden. »Die Garde hat Château Hougoumont verteidigt. Ich habe gehört, dass es den ganzen Tag über erbitterte Gefechte gegeben hat. Wenn wir das Château verlieren würden, würde das auch den Verlust der westlichen Flanke bedeuten, verstehen Sie?«
Olivia verstand nicht. Bis sie hier auf den Straßen die Verwundeten versorgt hatte, war sie nie mit solchen kriegerischen Auseinandersetzungen in Berührung gekommen. »Kann denn niemand an Ihrer Stelle gehen?«, fragte Olivia. »Sie waren heute so lange auf den Beinen, dass ich fürchte, es würde Ihre Verletzung nur noch verschlimmern.«
Einen Moment lang sah Grace sie verwirrt an. Dann lächelte sie sanft. »Ach, mein Bein. Das ist keine Verletzung, Olivia. Ich bin so geboren worden. Ich versichere Ihnen, dass es schon Schlimmeres überstanden hat.«
Olivia errötete. »Oh, das tut mir leid.«
Graces Lächeln wurde noch milder. »Seien Sie nicht albern. Wieso sollte ich gegen Freundlichkeit etwas einzuwenden haben? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich zu begleiten? Der ehemalige Offiziersbursche meines Vaters, Sergeant Harper, wird mit uns kommen. Er beschützt uns mit Waffen. Doch er sähe es lieber, wenn ich eine Freundin dabeihabe, falls … nun ja …«
Olivia strich ihre blutbesudelte Schürze glatt und warf einen nervösen Blick zur Stadtmauer. »Natürlich. Aber sind Sie sich sicher, dass Sie heute Abend fahren müssen? Es ist schon nach sieben, und die Soldaten sagen, dass die Straße so gut wie unpassierbar ist.« Und das Kanonenfeuer hatte erst vor so kurzer Zeit aufgehört.
Grace lächelte. »Nicht für einen alten Soldaten.« Sie starrte auf ihre Hände, als wäre sie fasziniert von ihnen. »Verstehen Sie nicht?«, fragte sie mit einem steifen Schulterzucken. »Ich muss es wissen.«
Olivia sah die Wallanlagen entlang und bemerkte, dass die Zivilisten innegehalten hatte, um die Stille besser deuten zu können. Sie betrachtete die stumme Prozession von Verwundeten, die durch die Tore stolperten und taumelten. Es war die Hölle. Doch wie mochte es da draußen aussehen, nachdem die Geräusche der blutigen Schlacht den ganzen Tag über angehalten hatten?
Ehe sie lange darüber nachdenken konnte, nickte sie. »Ich werde Lady Kate Bescheid sagen. Bei all den jungen Männern, die sie bezaubern muss, bezweifle ich, dass sie überhaupt bemerken wird, wenn ich weg bin.«
Olivia konnte Grace, die sonst immer so kontrolliert war, am Gesicht ablesen, wie aufgewühlt sie war. »Danke, Olivia. Können Sie mit einer Waffe umgehen?«
Zum ersten Mal lächelte auch Olivia. »Tatsächlich kann ich das. Mein Vater hatte eine übermäßige Vorliebe für Waffen. Und ich kann mir im Moment nicht vorstellen, was ich lieber täte, als auf jeden zu schießen, der uns daran hindern will, zu Ihrem Vater zu gelangen.«
Außer vielleicht, auf Gervaise zu schießen. Aber er hatte sich auffallend zurückgehalten, seit die Duchess Olivia gerettet hatte. Selbst er war nicht so dumm, Lady Kate herauszufordern. Jedenfalls hoffte sie das.
Doch ihre Probleme musste sie erst einmal hintanstellen. Jetzt ging es um Grace. Also straffte sie die Schultern, wie sie es bei den Soldaten gesehen hatte, ehe sie in den Kampf marschiert waren. »Sollen wir uns dann wie Grenadiere bewaffnen und Sergeant Harper aufs Schlachtfeld folgen?«
Trotz der Tränen in ihren Augen lächelte Grace. »Genau. Das Abenteuer erwartet uns.«
Nur die Tatsache, dass Sergeant Harper zwei Gewehre dabeihatte, sicherte den Erfolg ihrer Mission. Ganz sicher war es nicht seine Körpergröße. Er war nicht viel größer als Olivia, krummbeinig und hatte einen feuerroten Haarschopf. Aber Olivia erkannte gleich die Bindung, die er zu Grace hatte, und wusste, dass er niemals zulassen würde, dass ihr etwas zustieß.
Lady Kate bot ihnen ihre Kutsche, ihre Pferde und ihren Kutscher an. Sie nahmen die ersten beiden Angebote an; der Kutscher war beunruhigend blass geworden, als sie ihm ihr Ziel genannt hatten.
Grace lenkte die Kutsche, damit der Sergeant die Hände freihatte, um sie nötigenfalls verteidigen zu können. Da sie nicht versessen darauf war, allein in der Kutsche zu sitzen, kletterte Olivia auf den Kutschbock und nahm zwischen den beiden Platz. Nicht einmal der Bündelrevolver, den sie in der Tasche ihrer Schürze trug, beruhigte sie, als sie langsam die Charleroi Road hinabfuhren.
Die Landschaft war hügelig. Äcker mit Weizen, Roggen und Gerste
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