Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
ihres Vaters, der friedlich auf ihrem Schoß lag. »Er hätte eigentlich im Hauptquartier sein sollen. Wellington hatte ihn zum Quartiermeisterkorps abgeordnet. Er war schon zu alt. Doch er wollte nicht, dass seine Jungs ohne ihn in diese Schlacht gehen.«
Olivia berührte Graces Hand, die auf der blutverschmierten Brust ihres Vaters lag. »Ist er nicht so gestorben, wie er es sich gewünscht hätte?«
Graces Lächeln wurde breiter, und in ihren Augen funkelte ein bittersüßer Ausdruck. »Das stimmt«, sagte sie. »Danke.«
Olivia wünschte, sie hätte Grace die Zeit geben, die sie jetzt brauchte. Aber es war schon spät, und sie hatten noch einen langen Heimweg vor sich.
»Wir müssen ihn nach Hause bringen, meine Liebe. Die Plünderer warten bereits.«
Grace war mit einem Mal wieder hochkonzentriert und blickte in Richtung der Tore. »Ach ja«, sagte sie und streichelte ihren Vater. »Daran hätte ich denken müssen. Wir sind hier nicht sicher.«
»Soll ich Ihnen den Sergeant schicken?«
»Würden Sie das tun?«
Olivia streckte den Arm aus, um die Tränen abzuwischen, die Grace über die Wangen rannen. »Ich verspüre den seltsamen Drang, eine Waffe zu schwingen. Ich glaube, ich werde Furcht einflößend aussehen, meinen Sie nicht?«
Als Sergeant Harper Olivia durch das große Tor kommen sah, sicherte er die Zügel und legte die Gewehre zur Seite. Er hatte es gewusst.
»Ich übernehme hier, Sergeant«, sagte Olivia. »Der General braucht Sie.«
Die Augen des kleinen Mannes glänzten verdächtig. »Meinen Sie, Sie schaffen das, Ma’am?«
Olivia streichelte einem der rastlosen Pferde über den Kopf. »Ich habe keine schwierige Aufgabe, Sergeant. Ich komme zurecht.«
Er nickte und sprang von der Kutsche. »Danke, Ma’am. Ich bin sofort zurück.«
Seltsamerweise fiel Olivia erst in diesem Moment auf, dass der Sergeant nur noch ein Bein hatte. Sein linkes Bein war aus Holz, und es dauerte einen Augenblick, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Sie wartete, bis er auf den Hof marschiert war, um seinem General ein letztes Mal zu dienen. Er humpelte nur leicht. Als er fort war, kletterte sie auf den Kutschbock, um seinen Platz einzunehmen.
Von dort oben aus hatte man einen guten Überblick. Zu gut, wie Olivia schnell klar wurde. Das unwirkliche Licht des Mondes saugte die Farbe aus dem Gemetzel um sie herum. Sie konnte die Uniformen nicht länger unterscheiden. Die Toten hatten ihre Identität verloren. Sie waren nicht länger Freund oder Feind, sondern nur noch Tausende und Abertausende von Jungen, die nie mehr nach Hause zurückkehren würden.
Bitte, lass Jack nicht für das hier mitverantwortlich sein, betete sie zu dem dunklen Himmel hinauf. Bitte, lass nicht zu, dass ich diese gefallenen Jungs verrate, indem ich ihm helfe.
Grace kehrte mit sechs überlebenden Gardisten zurück, die die Ehrengarde bildeten und vorsichtig den Leichnam des Generals zur Kutsche trugen. Sergeant Harper führte sie an. Ein weiterer Offizier hatte die humpelnde Grace untergehakt, beugte sich zu ihr und redete auf sie ein. Grace nickte, ohne den Blick von ihrem toten Vater abzuwenden.
Olivia zog die Zügel an, um die Pferde zu beruhigen. Sergeant Harper öffnete die Tür der Kutsche, und die Männer legten ihren General hinein. Nachdem sie jedem der Männer einen Abschiedskuss gegeben hatte, stieg auch Grace in die Kutsche. Sergeant Harper kletterte auf den Kutschbock und setzte sich neben Olivia. Sie konnte Tränenspuren auf seinem Gesicht erkennen.
Ach, so betrauert zu werden. Eine Tochter zu haben, die mutig genug war, um auf einem Schlachtfeld nach einem zu suchen. Eine Reihe von angeschlagenen, rußverschmierten Soldaten zu haben, die salutierten, wenn die Tür zum Bestattungswagen sich schloss, und einen treuen Freund, der einen nach Hause brachte.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sergeant«, sagte Olivia, »ich bin keine besonders gute Kutscherin. Aber ich kann mit dem Gewehr umgehen. Mein Papa hat darauf bestanden, dass wir alle jagen lernen. Es war seine große Leidenschaft.«
Mit schimmernden Augen nickte der Sergeant und übernahm die Zügel. Olivia rückte auf dem Kutschbock herum, bis sie eine gute Sitzposition hatte, und legte sich die Gewehre auf den Schoß.
»Ich danke Ihnen, Ma’am«, sagte er. »Was Sie heute getan haben, ist großartig.«
»Unsinn, Sergeant«, erwiderte sie und schob sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht, ehe sie die Finger an den Abzug legte. »Ich habe nur nach ein
Weitere Kostenlose Bücher