Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
eine Dokumentenmappe bei sich«, flüsterte Chambers, der ein paar Meter von ihr entfernt stand. »Ich habe seine persönlichen Gegenstände hineingelegt und die Mappe unter ihm versteckt, ehe ich Sie gesucht habe.«
Olivia förderte die Tasche zutage, als sie Jack umdrehte. »Haben Sie nachgesehen, was drin war?«
»Nein. Das geht mich nichts an.«
Sie nahm sich einen Moment, schlang den Riemen über ihre Schultern und versteckte die Mappe unter ihrer Schürze. Sie würde sich den Inhalt später ansehen, wenn Zeit war.
»Mylady …«
»Nicht«, sagte sie und widmete sich wieder dem reglosen Jack. »Ich will meine Stellung unbedingt behalten. Wenn nur ein Mal der Name Countess of Gracechurch fällt, muss sogar die Duchess of Murther mir die Tür weisen. Das mag Ihnen vielleicht gefallen, aber es wird Jack ganz und gar nicht helfen, oder?«
Chambers blieb ein paar Meter vor ihr stehen. Er hatte die blutige, mit Ruß verschmierte Uniformjacke eines Gardisten und eine Offiziersschärpe in der Hand. Er öffnete den Mund, als wollte er ihr antworten. Doch ein Blick von ihr genügte, und er überlegte es sich anders.
»Ich brauche Hilfe, um ihn zurückzubringen«, sagte er und reichte ihr die Kleider. »Das Pferd ist tot.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das können Sie nicht von mir verlangen.«
»Bitte«, flehte Chambers, und sie konnte die Verzweiflung in seiner Stimme hören.
Sie schloss die Augen und betete um Kraft. »Versuchen Sie, ihn zur Straße zu tragen. Wir kommen an Ihnen vorbei.«
Behutsam, damit sie ihm nicht noch weitere Schmerzen zufügten, schoben sie seinen blutigen Arm in den Ärmel und schlossen die Jacke. Olivia schwitzte. Sie musste sich die Schweißperlen aus den Augen wischen, als sie die rote Schärpe um Jacks Taille schlang und die verräterische blaue Uniformjacke verschwinden ließ.
»Ich gehe jetzt zurück zu meiner Freundin«, erklärte sie, erhob sich und rieb sich die Hände an ihrer Schürze ab.
Chambers, der neben seinem ehemaligen Herrn hockte, blickte zu ihr hoch. »Danke … Mrs Grace. Das werde ich Ihnen niemals vergessen.«
Sie konnte nicht anders und warf noch einen letzten Blick auf Jack. Dann unterdrückte sie ihre Trauer, wandte den beiden Männern den Rücken zu und ging.
Sergeant Harper wartete am nördlichen Tor. Die Gewehre lagen gut sichtbar auf seinen Knien, und er blickte aufmerksam durch das offene Tor in den Hof des Châteaus.
»Ich hatte kein Glück, Sergeant«, sagte Olivia und hoffte, dass er nicht bemerken würde, wie sehr ihre Stimme zitterte. »Haben Sie Grace gesehen?«
»Ja, Ma’am«, sagte er und wies mit dem Kopf in Richtung Hof. »Sie ist da hineingegangen. Würden Sie zu ihr gehen? Ich habe eine böse Vorahnung.«
Olivia nickte und trat durch die zerstörten Gitter in den nördlichen Hof. Es lagen noch mehr Tote dort. Noch mehr rote Bündel zu Haufen aufgeschichtet, noch mehr gebrochene Herzen. Einige Männer liefen herum. Bleiche Soldaten, die nach Verletzten suchten oder nach einem Platz zum Ausruhen. Olivia sah sich um, aber sie konnte Grace zwischen den Überresten der Neben- und des Hauptgebäudes nicht entdecken.
»Grace? Wo sind Sie, meine Liebe?«
Einen Moment lang herrschte Stille. Im Hof hing Rauch, und es roch nach Krieg. Olivia wusste, dass sie nie wieder Rauch sehen könnte, ohne an diesen Ort zurückzudenken.
»Ich bin hier«, rief Grace von der Rückseite des zerstörten Hauses herüber.
In dem Augenblick wusste Olivia es. Sie konnte es hören. Die Endgültigkeit in Graces Stimme.
Oh Gott. Armes Ding.
Olivia hob ihren Rock an, damit er nicht durch das Blut schleifte, das sich zwischen den Steinen gesammelt hatte, und ging an den noch immer brennenden Gebäuden vorbei. Kurz darauf gelangte sie in einen weiteren verwüsteten Hof. Grace hockte zusammengekauert im Schatten einer kleinen Kapelle aus Stein. Ihre Röcke hingen auf den Boden, die Säume im Blut. Sie hielt einen der rot gekleidete Körper in den Armen.
Als sie hochsah, bemerkte Olivia die Tränen, die den Rauch und den Ruß von Graces Wangen gewaschen hatten. Ihre Miene wirkte ruhig – beinahe so, als hätte sie gerade eine Szene gespielt, die sie schon unzählige Male in Gedanken durchgegangen war.
»Oh, Grace«, sagte Olivia und kniete sich neben ihre Freundin. »Es tut mir so leid.«
Grace brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Er wusste, dass ich kommen würde. Er hat gewartet, um mir Lebewohl zu sagen«, entgegnete sie und streichelte das Gesicht
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