Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
Lady Kate sich um und hakte sich bei der nachdenklichen Lady Bea unter. »Ich frage mich, ob sie den Mut haben wird, uns die Wahrheit zu sagen, ehe wir sie darauf ansprechen müssen.«
»Gefährlich«, antwortete Lady Bea mit einem Stirnrunzeln.
»Ja, das ist es«, stimmte Lady Kate ihr zu und war mit einem Mal ernst. »Gefährlich.«
Kapitel 5
Olivia wartete seit drei Tagen auf die Gelegenheit, mit Lady Kate sprechen zu können. Allmählich fing sie an zu glauben, dass die Duchess ihr absichtlich aus dem Weg ging. Es war nicht so, dass die Duchess nichts zu tun hatte. Sie alle waren vollauf beschäftigt und hatten noch nicht einmal die Zeit gefunden, Graces Vater zu beerdigen. Sein Leichnam lag im kühlen Keller auf einer Holzbohle. Kerzen standen am Kopf- und am Fußende, und ein Bediensteter des Hauses hielt Wache.
Grace verbrachte die meiste Zeit draußen in den Zelten, wo ohne Unterlass Verwundete ankamen. Lady Kate teilte ihre Zeit zwischen den Lazarettzelten und den Häusern britischer Besucher in der Stadt auf. Dort redete sie auf ihre Bekannten ein und bat sie darum, Nachschub zu liefern. Olivia überwachte die Pflege der Männer, die im Haus wieder zu Kräften kommen sollten. Angesichts der Tatsache, dass sie Gervaise ein paarmal vor dem Haus hatte herumstehen sehen, war sie nur froh, nicht nach draußen zu müssen.
Olivia hatte nicht viel Zeit, um bei Jack zu sitzen. Es gab einfach zu viele andere, die ihre Hilfe brauchten. Doch jede freie Minute, die sie hatte, verbrachte sie in seinem aufgeheizten, stickigen Zimmer. Sie wartete darauf, dass er aufwachte, und kämpfte gegen die Woge der Hoffnung an, wenn er die Augen aufschlug – und sei es auch nur für einen winzigen Moment. Wenn er sie dann wieder schloss und doch nicht richtig aufwachte, riss sie sich zusammen und überwand die Furcht und das Unbehagen.
Sie fühlte sich unruhig und angespannt. Ihre Hände zitterten, ihr Magen rebellierte immer wieder, und ihr Herz geriet bei seltsamen Geräuschen und Überraschungen ins Stocken. Es gab so viele Dinge in ihrem Leben, die sie geheim halten musste. Sie hatte kaum eine andere Wahl. Und es blieb nur so wenig Zeit, ehe Lady Kate ihr die Tür weisen musste.
Sobald sie sich ausruhen wollte, verfolgten ihre Ängste und die Erinnerungen an das, was sie durchgemacht und gesehen hatte, sie in den Schlaf. Die Verwundeten, die Sterbenden, die Verstümmelten, Hunderte von ihnen, die nach Hilfe suchten, die sie ihnen nicht geben konnte.
Und immer wieder dachte sie an Jack. Jack, der sich in den Augen ihres kleinen Jamie widerspiegelte. Jack, der sich in den Erinnerungen an die letzten furchtbaren Tage ihrer Ehe in ihren Kopf stahl. Jack, der hinter dem schrecklichen Rätsel stand, das sie nun lösen musste.
Er war kein Verräter. Olivia hätte es geschworen. Aber sie wusste nicht, wie sie ihn angesichts der eindeutigen Beweise verteidigen sollte. Wenn sie behauptete, dass Jack bei einem alliierten Regiment gefunden worden war, würde es wahrscheinlich nur wenige Stunden dauern, bis die Lüge aufflog. Die feine Gesellschaft war schlicht zu übersichtlich, und es kannte so gut wie jeder jeden – entweder durch Blutsbande, durch die Schule oder einen Klub. Sie würden auf den Tag genau wissen, wann Jack sich verpflichtet und unter welchem Kommando er gestanden hatte.
Sie war im Besitz seiner Diplomatentasche, doch sie hatte noch nicht den Mut aufgebracht, sie zu öffnen. Sie wusste, dass sie alle um sich herum damit in noch größere Gefahr brachte, aber sollte Jack nicht zuerst die Chance bekommen, sich zu erklären? Die Schlacht war gewonnen. Die Stadt war noch immer in Aufruhr, und man versuchte, mit den Toten und Verwundeten fertigzuwerden. Würde Jacks Geheimnis wirklich einen Unterschied machen?
Sie wusste, dass es wahrscheinlich schon einen Unterschied machen würde. Trotzdem wartete sie.
Am dritten Morgen fragte Olivia sich, ob er jemals wieder aufwachen würde. Als sie von ihrem morgendlichen Rundgang im Krankenlager zurückkam, öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer. Er schlief noch immer. Sergeant Harpers Respekt gebietende Ehefrau saß an seinem Bett und hielt Wache. »Wie ist es?«
»Ach, guten Morgen, Misses«, sagte die stämmige Frau mit dem runden Gesicht. Lächelnd erhob sie sich von dem zierlichen Stuhl. »Haben die Männer etwas zu essen bekommen, und sind sie bereit für den Tag?«
Olivia konnte den Blick kaum von Jack abwenden, der still in seinem Bett lag. »Das sind sie, und es
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