Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
unbefangen. Sie blickte auf Olivias Hand. In dem Moment erst bemerkte Olivia, dass sie Jacks Hand hielt.
Sie ließ los. »Reden?«, fragte sie mit klopfendem Herzen.
Mrs Harper deutete auf Jack. »Sie sind in einer Art Schlaf. Als mein alter Vater vom Dach stürzte, hat meine Mutter ihn Tag und Nacht angeschrien, er solle seine faulen Knochen aus dem Bett bewegen und sich um die Kühe kümmern. Und tatsächlich ist er zwei Tage später aufgewacht und meinte, er habe einen Engel Gottes gehört, der ihn ständig zu seinen Pflichten gedrängt hätte.« Sie zuckte mit den Schultern. »Könnte klappen.«
Olivia blickte wieder zu Jack. Sie sollte mit ihm sprechen? Und was sollte sie sagen? Sie konnte nicht über sie beide reden. Sie konnte nicht über Wyndham Abbey und seine Familie reden, als würde sie noch immer dazugehören. Es war fünf Jahre her. Sie konnte kaum an seine Familie denken, ohne dass es ihr schlecht ging.
Bis auf die Zwillinge, die um sie geweint hatten, und Neddy, der so sehr versucht hatte, ihr zu helfen, auch wenn es bedeutet hatte, zugeben zu müssen, dass sein älterer Bruder nicht so heldenhaft war, wie er angenommen hatte.
Und Georgie. Aber sie würde nicht über Georgie sprechen. Nicht hier. Nicht jetzt.
Sie konnte nicht mit Jack reden. Sie würde es nicht tun.
Sie tat es doch. Zuerst für ein paar Minuten, dann für Stunden. Sie beugte sich so nah zu Jack, dass nur er sie hören konnte, und erzählte von der Abbey, die sie einst gekannt hatte, von Little Wyndham, von der kleinen normannischen Kirche, in der ihr Vater gearbeitet hatte und in der sie im Chor gesungen und den Vorsitz im Festkomitee gehabt hatte. Von der Kirche, in der sie an jenem regnerischen Morgen im Mai geheiratet hatten.
Sie betrachtete Jacks Hand in der ihren. Früher war seine Hand so elegant gewesen, und jetzt war sie zerkratzt und rau. »Die Lämmer und Kälber wachsen heran«, flüsterte sie und rieb über seine Finger. »Der Weizen wächst. Und der Hopfen für dein Lieblingsale. Der Bierbrauer John wird am Rand des Feldes entlanglaufen, um den Zustand zu prüfen. Und Ned wartet darauf, dass du nach Hause kommst, um ihm dabei zu helfen, ein neues Paar Pferde für seinen Zweispänner auszusuchen. Maude und Maddie möchten, dass du sie zur örtlichen Gruppe begleitest, damit sie mit dir angeben können, und dein Vater« – Olivia schluckte und holte Luft – »hat das neue Manton -Gewehr, das er herzeigen möchte. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, Jack. Sie vermissen dich.«
Er war so still. Nur daran konnte sie denken, als sie neben seinem Bett saß und in der Dämmerung der untergehenden Sonne mit ihm redete. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er je so still gewesen wäre. Er war immer so voller Energie, so voller Freude bei allem, was er tat – ob es nun Reiten oder Boxen oder Fechten gewesen war. Und manchmal, wenn es ihn überkommen hatte, dann hatte er sogar seine Jacke ausgezogen und dabei geholfen, das Korn einzubringen.
Eine von Olivias schönsten Erinnerungen war die an den Tag, als sie ihn auf einem der am weitesten entfernten Felder des Hofes getroffen hatte. Sein Nacken hatte golden in der Sonne geschimmert, seine Augen hatten dieses unglaubliche Grün des jungen Frühlings gehabt, und seine Schultern hatten gebebt, weil er so gelacht hatte, als er mit zwei seiner Freunde aus Kindertagen den Weizen geerntet hatte.
Er hatte ausgesehen wie ein junger Gott, und so hatten die Leute ihn auch wahrgenommen. Er war nicht einfach nur der Sohn des Marquess gewesen. Er war »ihr Master Jack« gewesen. Jedes Milchmädchen im Umkreis hatte seinen Weg so gelegt, dass es ihm auf seinem täglichen Ausritt begegnen musste. Keine der Bauersfrauen konnte widerstehen, ihm warme Fleischpastete und kühles Ale zu servieren. Er konnte nicht an den örtlichen Gasthöfen vorbeifahren, ohne mit den Stammgästen haarsträubende Geschichten auszutauschen. Er war eine Naturgewalt, und alle Menschen, die ihn kannten, verehrten ihn.
Selbst sie. Vor allem sie. Er war anders als alles, was sie in ihrem kleinen, biederen Leben kennengelernt hatte. Als Tochter eines Vikars war sie es gewohnt gewesen, von Gemeinde zu Gemeinde zu ziehen, wie die Kirche es befahl. Ihre Welt hatte sie durch ihre Aufgaben definiert. Sie hatte das Leben geliebt, weil sie gern tüchtig war. Doch sie war eine kleine Forelle in einem träge dahinströmenden Bach gewesen, ehe Jack Wyndham sie entdeckt und in die strahlende Morgensonne geholt
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