Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
geht allen schon besser.«
»Das ist schön«, sagte die Frau und rollte die Socken auf, die sie gestopft hatte. »Wenn doch nur diese arme créatúr aufwachen würde, damit wir seinen Namen wüssten, wäre ich glücklich.«
Olivia blickte auf. »Er war nicht wach?«
»Wach kann man nicht sagen«, erwiderte Mrs Harper und betrachtete Jack einen Moment lang. »Er hat etwas gemurmelt. Hat nach seiner Lady gerufen.«
Unwillkürlich hielt Olivia die Luft an. »Wie bitte?«
Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen beugte Mrs Harper sich zu ihr herüber. »Sein Schwarm, glaube ich. Heißt Mimi. Offenbar hat er mit ihr Französisch gesprochen. Tja, mit Charme verdreht man einem Mädchen den Kopf.«
Olivia blickte abrupt auf, aber Mrs Harper schien nicht argwöhnisch zu sein. Sie sah so grimmig aus, wie sie es immer tat.
»Genau«, stimmte Olivia vage zu. »Mimi.«
Erstaunlich, wie ein einziges Wort jemandem einen so schmerzhaften Stich versetzen konnte.
Mrs Harper schien das nicht zu bemerken. Sie nahm ihre Sachen und wandte sich zur Tür um. »Nun ja, da Sie hier sind, werde ich diesen jämmerlichen Abklatsch von einem Koch einmal dazu bringen, Kartoffelsuppe für die Jungs zu kochen. Und er hier könnte auch ein paar Pfund mehr auf den Rippen vertragen.« Sie warf Olivia einen prüfenden Blick zu. »Sie sollten ebenfalls ein bisschen Suppe essen, Misses. Es nützt nichts, wenn Sie dahinwelken, da die Aufregung nun vorbei ist.«
»Danke«, sagte Olivia und machte es sich auf dem Stuhl bequem. »Das klingt wundervoll.«
Mrs Harper zuckte mit den Schultern und wollte gerade gehen, als die Tür aufflog. Olivia erschrak. Ein magerer Junge mit zu großen Ohren, einer zu großen Nase und einem zu spitzen Kinn stand in der Tür. Er trug eine lächerliche gepuderte Perücke und eine funkelnagelneue rot-goldene Livree.
»Was halten Sie davon?«, wollte er mit einem einnehmenden Lächeln wissen und breitete die Arme aus. »Sehe ich jetzt nicht aus wie ein echter Page?«
»Sei still!«, versetzte Mrs Harper knapp. »Du bist ein frecher Bengel!«
»Natürlich bin ich das«, versicherte er ihr strahlend. »Meinen Sie, ein Name wie ›Thrasher‹ kommt von einer schicken Jagd unter Adeligen? Meine Mutter war eine Metze, und mein Vater hat die dreibeinige Stute geritten, weil er ein Wegelagerer war. Und bevor Durchlaucht mich als ihren Pagen angestellt hat, war ich der beste Taschendieb in den Rookeries.«
Olivia hatte genügend Zeit in dem alten Viertel verbracht, in dem Thrasher gelebt hatte, um ihn zu verstehen. Seine Mutter war also eine Prostituierte gewesen, und sein Vater war gehenkt worden, weil er ein Straßenräuber gewesen war. Sie wusste auch, dass Lady Kate ihn zu sich genommen hatte, als er eines Abends in Covent Garden versuchte, ihr die Handtasche vom Arm zu schneiden.
Olivia schüttelte den Kopf. Das überließ sie Lady Kate. »Du siehst sehr vornehm aus«, sagte sie ernst.
Grinsend sah er an seiner prächtigen Kleidung hinab. »Natürlich muss ich diese Klamotten ablegen, wenn ich für die Lady die Lage auskundschafte. Niemand redet mit einem Kerl, der so aussieht.«
»Hast du für uns irgendwelche Neuigkeiten, du kleiner Heide?«, wollte Mrs Harper wissen. »Oder bist du nur hier, um die Kranken zu belästigen?«
»Oh nein.« Er bemühte sich, ernst auszusehen. »Sie werden in der Küche gebraucht, Mrs Harper. Der Koch hat sich Ihre Beschimpfung zu Herzen genommen und sich in der Speisekammer eingeschlossen. Er sagt, er muss sich mit Hühnchen umgeben, um sich nicht noch mehr aufzuregen.«
Mrs Harper schnaubte sichtlich zufrieden. »Ich kann keine anständige Brühe machen, weil dieser kleine Mann mich nicht lässt. Tja, er wird mich jetzt gehen lassen, oder ich sehe mich gezwungen, ihm den Fluch der Dubhlainn Sidhe auf den Hals zu wünschen.«
»Grundgütiger«, sagte Olivia. »Was ist das?«
Mrs Harper grinste, was noch Furcht einflößender war als ihre finsteren Blicke. »Das ist gar nichts. Ich habe es mir ausgedacht. Aber das weiß er ja nicht.«
Laut lachend rannte Thrasher die Treppe hinunter. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte Olivia sich wieder zu dem noch immer still daliegenden Jack um.
»Ich habe gehört, dass es manchmal hilft, mit ihnen zu reden«, erklang hinter ihr unvermittelt Mrs Harpers Stimme.
Wieder erschrak Olivia. Sie hatte gedacht, dass Mrs Harper schon gegangen wäre. Doch die Frau stand noch immer in der Tür, und zum ersten Mal wirkte sie nicht mehr so
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