Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
sicher verborgen zu halten, damit sie sich auf das konzentrieren konnte, was sie tun musste, statt darüber nachzudenken, was sie verloren hatte.
Als Jack sie verstoßen hatte, hatte sie ihn in dem am sichersten verschlossenen Behältnis eingesperrt. Monatelang hatte sie ihren Verstand, ihr Herz und ihren Körper gelehrt, ihn zu vergessen. Sie hatte versucht, die süße Freude über sein Lächeln beiseitezuschieben, das berauschende Hochgefühl seiner Berührung, das Wunder seiner Liebe. Sie hatte ihn in sich ausgelöscht – genau wie Jamie –, weil sie nicht überlebt hätte, wenn sie sich ständig bewusst gewesen wäre, dass er noch immer existierte.
Bis jetzt. Bis zu dem Zeitpunkt, als Jack die Augen aufgeschlagen und all die Behältnisse mit ihren Erinnerungen geöffnet hatte.
Abrupt straffte sie die Schultern. Genug. Niemand musste sehen, wie sie sich selbst bemitleidete. Vor allem nicht in diesem Haus, in dem ehrenhafte Männer klaglos schlimmeren Schmerz erduldeten. Sie drückte den Rücken durch, wie sie es schon so oft getan hatte, und hielt mit bloßer Willenskraft ihre Tränen zurück. Und dann nahm sie die zerrissene und blutige Diplomatentasche an sich, verließ ihr kleines Zimmer und ging nach unten.
Im Haus der verwitweten Duchess of Murther wurden Katastrophen offenbar bei Tee und Gebäck mitgeteilt. Olivia erfuhr das, als sie später am Nachmittag endlich Lady Kate aufspürte. Sie wusste, dass sie ihre Beichte nicht länger aufschieben konnte, und beschloss, die Duchess abzufangen, ehe sie ihr wieder entwischte. Also bezog sie auf einem hochlehnigen Stuhl in der Eingangshalle Stellung und wartete darauf, dass die Duchess von ihren morgendlichen Besuchen in der Stadt zurückkehrte.
Lady Kate kam herein, als die Uhr auf dem Kaminsims gerade viermal schlug. Grace und Lady Bea folgten ihr. Olivia bemerkte das belustigte Funkeln in Lady Kates Augen, als sie ahnte, was kommen würde.
»Sind Sie sicher, dass das nicht warten kann?«, fragte Lady Kate, während sie ihre rosafarbene Haube abnahm und Finney reichte. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Worte, Olivia, aber Sie sehen fürchterlich aus.«
Olivia erhob sich und brachte ein Lächeln zustande. »Tja, da ich mich auch so fühle, kann ich wohl kaum widersprechen. Es tut mir leid, doch ich habe so lange gewartet, wie es ging.«
Geduldig nahm Finney den Damen die Umhänge ab. In seinen riesigen Pranken sahen die Mäntel aus wie Puppenkleidung. »Wir haben alle versucht, die Lady dazu zu bringen, sich auszuruhen«, flüsterte er Lady Kate mit rauer Stimme zu. »Sie wollte nicht.«
»Nun ja, wenn Miss Olivia etwas ist, dann beharrlich«, versicherte Lady Kate ihm und tätschelte seinen Arm. »Ich bin mir aber sicher, dass sie zu einer Tasse Tee nicht Nein sagen würde, habe ich recht, Olivia?«
Und ohne auf die Antwort zu warten, rauschte Lady Kate in den blauen Salon, den einzigen Raum, in dem keine Verwundeten untergebracht waren.
Olivia nahm die Diplomatentasche und folgte ihr.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Grace und sah aus, als wollte sie den Arm um Olivias Schultern legen.
Olivia wusste, dass ihr Lächeln gezwungen wirkte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und trat vorsichtig einen Schritt zurück. Sie hoffte, dass Grace sie verstand. Wie Grace kannte sie die Momente, in denen Trost nur ihre mühsam aufrechterhaltene Kontrolle zerstört hätte.
Sie riss sich zusammen. Noch immer verspürte sie den überwältigenden Drang, wie eine Wahnsinnige zu lachen. Was, um alles in der Welt, sollte sie nur tun? Womit sollte sie beginnen? Und wie sollte sie das Unvermeidliche überstehen, wenn sie und Jack entlarvt wurden?
Sie nahm auf einem der lilafarbenen Louis-Quinze-Sessel Platz, die links und rechts neben dem Marmorkamin standen, und ertappte sich dabei, dass sie auf ihre Hände starrte, als würde es ihr helfen, das verräterische Handeln dieser Hände zu verstehen. Sie hätte schwören können, noch immer Jacks Duft an ihnen wahrzunehmen.
Wie hatten sie das tun können? Wie hatte sie das tun können? Sie hatte die furchtbaren Entbehrungen, die sie in den vergangenen fünf Jahren erlitten hatte, ad absurdum geführt. Er hatte die Augen aufgeschlagen und ihren Namen gerufen, und die Disziplin, um die sie so mühsam gekämpft hatte, hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Allein der Gedanke jagte ihr Schauer des Verlangens durch den Körper. Sie verspürte buchstäblich den Drang, aufzuspringen und zu ihm zurückzulaufen, ihn
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