Unwiderstehliches Verlangen
egoistisch. Ich denke mehr an William als an mich. Es ist für uns beide schwer.«
»Nein, ganz und gar nicht!« sagte Nellie wild. Und plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
Jackie fiel nichts anderes ein, als die Arme um Nellie zu legen und sie an sich zu ziehen.
»Entschuldigen Sie«, sagte Nellie schniefend und machte sich von ihr frei. »Es ist nur so, daß ich die Dinge klarer sehe als Sie. Ich hatte früher nämlich die gleichen Probleme. Vor vielen Jahren waren mein Mann und ich in der gleichen Lage wie Sie jetzt.«
»Das verstehe ich nicht. Ihr Mann ist doch nicht jünger als Sie.«
»Nein, meine Liebe«, sagte Nellie lächelnd, »Jace ist nicht jünger als ich. Aber auf das Alter kommt es nicht an. Weder in meinem noch in Ihrem Fall. Alter bedeutet nichts. Gar nichts. Wissen Sie was?
Sie haben nur Angst davor, was andere Leute denken könnten. Aber ich habe eines im Leben gelernt: Wenn man anderen Menschen Macht über sich gibt, werden sie sie mißbrauchen.«
Sie legte die Hand auf Jackies Arm. »Eine wahre Freundin will das Beste für Sie und nicht für sich.«
Jetzt umschloß Nellie Jackies beide Hände. »Vor vielen Jahren, als Jace mich bat, seine Frau zu werden, gab ich ihm einen Korb. Ich sagte ihm, es gehe nicht, weil andere Leute, die ich für meine Freunde hielt, mir von der Heirat abgeraten hatten. Sie redeten mir ein, sie dächten nur an mein Wohl. Es dauerte lange — beinahe zu lange —, bis ich begriff, daß sie nur an sich selber dachten und nicht an Jace und mich. Die Menschen können sehr egoistisch sein.«
»Daran... daran habe ich nie gedacht.«
»Nein, Sie wollten sich nur der Mehrheit unterordnen. Die meisten Frauen nehmen einen Mann, der ungefähr fünf Jahre älter ist, und beschreiten dann einen Lebensweg, der ihnen von anderen vorgeschrieben wird. Sagen Sie mir eines, Jackie: Lieben Sie William?«
»Ja«, sagte Jackie aus tiefstem Herzen.
»Was hindert Sie dann daran, ihm Ihr Jawort zu geben?«
Jackie blickte sie nur wortlos an.
»Mein Kind, Sie vergessen, daß im Leben nur eins zählt: Liebe. Sonst nichts. Geld zählt nicht. Besitz zählt nicht. Wie alt man ist, welche Freunde man hat, was man schon geleistet hat - das alles zählt nicht. Liebe ist das einzige, was das Leben lebenswert macht. Und ich sage Ihnen noch etwas.
Liebe, wahre Liebe, ist selten. Die meisten Menschen sehnen sich ihr ganzes Leben lang danach und finden sie nie.«
Sie hielt inne, und in ihren Augen brannte ein Feuer. »Sagen Sie, Jackie, wenn Sie hier auf dem Boden einen großen Diamanten hegen sähen, was würden Sie tun?«
»Ich würde ihn aufheben«, sagte Jackie leise.
»Und wenn der Diamant lupenrein wäre, bis auf einen winzigen Fehler, sagen wir, einen kleinen Riß an einer Kante — würden Sie wegen dieses einen Fehlers den Diamanten wieder wegwerfen?«
Tränen traten Jackie in die Augen. »Nein, ich würde ihn trotz des Fehlers behalten.«
»Mein Sohn ist ein Mann, wie man sich ihn nur wünschen kann, aber auch er hat einen winzigen Fehler. Ich habe ihn zehn Jahre später auf die Welt gebracht, als Ihre Mutter Sie geboren hat. Also ist es eigentlich mein Fehler. Wollen Sie meinen Sohn wegen meines Fehlers wegwerfen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Jackie schluchzend und legte den Kopf auf die angezogenen Knie. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Nach einer Weile erhob sich Nellie. Doch bevor sie sich auf den Rückweg machte, fragte sie: »Kommen Sie mit?«
Jackie lächelte Nellie unter Tränen an. »Wie viele Leute aus Chandler werden unten auf mich warten?«
»Ein paar«, sagte Nellie.
Was natürlich so viel hieß wie die halbe Einwohnerschaft. »Ist William auch da?«
»Nein«, antwortete Nellie mit ernstem Gesicht.
»Er hat gesagt, Sie würden schon wissen, wo er zu finden ist.«
Jackie sank das Herz. Also wartete William irgendwo auf sie, aber sie mußte erraten, wo. Es mußte ein Ort sein, der vor zwanzig Jahren für sie beide eine Bedeutung gehabt hatte. Ihr fiel nichts ein. »Ich komme gleich nach«, sagte sie unentschlossen. »Ich muß mein Gesicht noch herrichten.« Und Zeit zum Überlegen haben, dachte sie.
»Zehn Minuten«, sagte Nelli. »Länger nicht. Man macht sich Sorgen um Sie.«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Jackie, und Nellie sah ihr an, daß sie noch immer keine Entscheidung getroffen hatte.
Sobald Williams Mutter außer Sichtweite war, ging Jackie zu ihrer Maschine, kletterte auf eine Tragfläche und schaute ins
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