Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
schickte er sodann in die Gaskammer.
Jede Woche schickte er ein paar Hundert, manchmal mehrere Tausend Menschen ins Gas: Die Deportierten – Männer, Frauen, Kinder, Greise – zogen nackt an ihm vorüber, und Mengele deutete ihnen wie ein Dirigent mit rhythmischen Bewegungen, sich nach links oder nach rechts zu stellen. »Rechts« war das Leben – für einige Wochen oder Monate, aber was für ein Leben! –, »links« war der Tod, die Gaskammer. Die Bewegung, dieses Armschwingen eines Dirigenten, das Leben oder Tod bedeutete, dieses musikalisch-rhythmische, endgültige und unwiderrufliche Urteil des Experten verfolgt mich bis in die Träume.
Eine Dame. Sie erzählt, dass sie und andere Frauen während der Belagerung im Keller von den Russen brutal angefallen wurden. Als sie am Morgen durch das Haustor getreten war, lag der junge Russe, mit dem sie unfreiwillig die Nacht verbracht hatte, mit einem Kopfschuss niedergestreckt auf dem Trottoir. Die Geschichte erzählte sie einfach so, gleichsam in Nebensätzen.
Green beschwert sich in seinem Tagebuch; da er wisse, dass Teile seines Tagebuchs auch im Druck erscheinen würden, habe er das Gefühl, jemand horche jetzt seine Privatgespräche ab. Er denkt an Gides Klagen: »… mein Tagebuch ist voller tot geborener Einträge.« Das ist das Schicksal jedes Schriftsteller-Tagebuchs. Wir schreiben für die Öffentlichkeit, auch wenn wir beichten. Also sollten wir bewusst so schreiben und beichten, als stände der Leser hinter dem Tagebuchschreiber und beuge sich über seine Schulter.
Es stellt sich die Frage, ob es unter solchen Umständen Sinn hat, ein Tagebuch zu schreiben. Was ist der Zweck eines Schriftsteller-Tagebuchs? Chronologisch über Ereignisse und über die Außenwelt zu berichten? Diese Aufgabe wird von den Zeitungen flinker und gründlicher erfüllt. Über uns selbst berichten, darüber, wie die Welt sich in uns spiegelt? Durch das Tagebuch uns selbst näherkommen? Das wäre der wirkliche Sinn. Aber ist das möglich, wenn wir wissen, dass auch andere diese Zeilen lesen? Ja, das ist es. Der Schriftsteller ist ein Mensch, der niemals »allein« ist. So ist er mit Gott, den Menschen und sich selbst übereingekommen. Auch im Moment der endgültigen, vorbehaltlosen Beichte muss er wissen, dass er der Menschheit beichtet, dass ihm Gegenwart und Zukunft zuhören. Damit muss man sich abfinden. Und in diesem Bewusstsein muss man sein Tagebuch schreiben, ohne Vorbehalte und Scham, aufrichtig, so gut es geht.
Der kleine Junge kommt mit hochrotem Kopf vom Spielen und der Hitze im Garten zu mir gelaufen und fragt: »Na, was würden Sie tun, wenn Sie Durst hätten? …« Ich weiß, was er will, und antworte ihm nüchtern: »Ich würde Wasser trinken.« Er nickt zustimmend. »Und ich, wenn ich durstig wäre? …«, fragt er. Diese komplizierte Frage der Diplomatie erledigen wir so: Wir gehen ins Haus, und ich gebe ihm ein Glas Wasser.
Das kleine Mädchen von nebenan hatte Geburtstag, es gab Torte, Kaffee mit Schlagobers, Lampions; wie die Lampions auf Jani und Ági wirkten, kann ich mit Worten nicht beschreiben … Ich muss versprechen, auch ihnen Lampions aus der Stadt mitzubringen; in diesem Wettstreit der zwei Nachbarburgen dürfen wir nicht unterliegen.
Voller Zweifel erkundige ich mich in zwei Geschäften der Innenstadt, ob es wohl Lampions gäbe. Vier Monate nach der Belagerung hört sich diese Frage seltsam an. Die Verkäuferin schaut mich zweifelnd an. Es gibt keine Lampions. Im dritten Geschäft herrscht, als ich wieder meine Frage stelle, peinliche Stille, schließlich erhebt sich ein älterer Herr mit Brille – der Geschäftsinhaber – aus dem Kassenverschlag, kommt misstrauisch näher, schiebt seine Augengläser über die Stirn und mustert mich. »Sind Sie nicht der Herr Schriftsteller Márai?«, fragt er. »Ja, der bin ich«, entgegne ich.
»Ja! …«, sagt er erleichtert und geht in seinen Käfig zurück. Hier gibt es keine Lampions, doch ich bekomme eine Adresse, Ecke Magyar- und Károlyistraße; da bekäme ich mit Sicherheit Lampions. Das Haus, das Geschäft sind nicht beschädigt. Ein gespenstischer Laden. In der Stadt, der die Gedärme heraushängen, zwischen durchlöcherten Häusern, wo jeder ein paar Lebensmitteln nachläuft, ein Geschäft, in dem sich nichts verändert hat: Hier wird das Überflüssige feilgeboten, das Magische und Märchenhafte. Auf den Regalen, an den Wänden Papierschlangen, Lampionketten wie auf einem fernöstlichen Fest,
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