Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Ruinen … da ist es doch besser. Diese falschen Gefühle, diese falsche Leidenschaft, diese geschminkte Natürlichkeit, diese Strichjungen und ihre Girls, diese banalen Geschichten … und braucht diese reiche und glückliche Welt das wirklich? Vielleicht braucht sie auch anderes. Doch was es bis hierher schafft, ist ekelhaft und abstoßend.
Ich habe alles beiseitegeschoben und mit Befreiung begonnen. In diesem Unternehmen steckt für mich wirklich auch eine Art Befreiung. Nicht ich habe mich entschieden; ich gehorche jetzt wirklich nur einem Gebot, einem höheren Befehl. Ich schreibe in dritter Person, weil das unpersönlicher, kühler ist. Das Thema ist so heiß, wallt wie geschmolzenes Eisen; man muss es in einen starren Tiegel gießen, damit es nicht überschwappt … Die Glut eines Bekenntnisses in erster Person würde die natürliche Hitze des Themas nur noch steigern.
Was erfährt Iwan Iljitsch in der Stunde seines Todes? Folgendes: »Ich habe nicht diejenigen geliebt, die ich hätte lieben müssen.«
Aber Tolstoi ist ein großartiger Schriftsteller, deshalb spricht er diese letzte Erkenntnis nicht aus. Er zwingt den Leser nur, diese Wahrheit zu sehen und selbst auszusprechen.
Der kleine Junge hat heute gesagt: »Ich weiß schon, warum Sie schreiben. Damit wir Brot haben.«
Endlich hat es jemand ausgesprochen.
Gräfin B. besucht mich . Früher waren wir befreundet. Jetzt knistert sie vor Hass. »Die Juden!«, schreit sie. »Was die sich erlauben! … Es gibt jetzt schon jüdische Politkommissare, die Beschuldigte ohrfeigen! Diese Juden wagen es, Menschen meines Standes zu ohrfeigen! Und dann der Grundbesitz! Der Besitz wird geraubt! Sollen doch die Russen erst einmal abziehen, dann werden sie uns kennenlernen …«
Das glaube ich schon, dass man sie dann kennenlernen würde. Sie haben nichts gelernt, haben auch nichts vergessen. Sie würden genau dort weitermachen, wo sie aufgehört haben: bei den Judengesetzen, beim Judenmord, bei der Vertilgung all derer, die zu denken und von der Wahrheit zu sprechen wagen … Und sie würden sich wieder in ihre Adelsschlösser hineinsetzen und bis in die siebte Generation all jene verfolgen, die sich auch nur für einen Augenblick trauten, an der Rechtmäßigkeit ihrer Großgrundbesitz-Ordnung zu zweifeln. Jeden als Landesverräter bezeichnen, der zu sagen wagte, die ungarische Gesellschaft habe sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren versündigt! »Die Juden haben Budapest schließlich aufgebaut, und die Christen haben es zerstört!«, sage ich zu ihr. Außer sich vor Wut schreit sie: »Wir werden es nicht zulassen, dass die Juden in Ungarn herrschen!« Ich mache sie darauf aufmerksam, dass es in dieser Frage keinen Kompromiss gibt. Ich weiß nicht, wohin die angebliche »Herrschaft« der Juden führen wird, doch wir haben gesehen, wohin die Herrschaft der Kreise um Gräfin B. und die der Christen geführt hat!
Hoffnungslos diese Gesellschaft – vielleicht die einzige in Europa, die nicht gewillt ist, etwas zu einem anderen Preis als den endgültigen, den Preis der Gewalt, zu lernen.
Eine der Erzählungen Tolstois , die ich nicht kannte: Pater Sergius . In wenigen seiner Schriften ist das persönliche Erleben so zu spüren wie hier. Der leidenschaftliche, sinnliche Mensch, der vor seinen Gelüsten in die Askese flüchten möchte, versucht das Unmögliche, er scheitert und wird aus Eitelkeit heilig und wundertätig, und es hilft ihm auch, dass er weiß: All das geschieht nur aus Eitelkeit, auch die Askese und die Wundertaten … Ein paar großartige Seiten über die Versuchung; an Innigkeit übertrifft er den ähnlichen Versuch Flauberts.
Der Schluss ist à la Tolstoi, aber gekünstelt und verlogen. Pater Sergius findet Gott, als er ihn nicht mehr sucht: findet ihn in der aktiven Nächstenliebe. Das ist als Lehrsatz schön, aber der literarische Tonfall ist falsch. Er hat all das ja schon perfekt mit dem russischen Schuster im Gefangenenlager von Krieg und Frieden verwirklicht – perfekt, weil unbeabsichtigt. Hier aber ist seine Stimme nicht aufrichtig. Pater Sergius ist, trotz allem, eine wichtige Erzählung. Sie stammt aus dem Jahre 1889, ein paar Jahre vor seinem Auszug und dem Tod beschäftigte ihn das Problem der Flucht in die Askese am intensivsten.
Ich glaube mit immer größerer Resignation, dass die ungarische sogenannte »herrschaftliche« Klasse von der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit zeitgemäßer Lösungen, von keiner Form der »Evolution«
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