Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
das sich über die Zeit erhoben und verselbstständigt hat, zu einer verzerrten, gespenstischen Wirklichkeit geworden ist … An der Wand hängen Masken wie in der Hütte eines afrikanischen Zauberers: der Menschenfresser, der Häuptling, der Hohepriester, der Neger, der Chinese, der heilige Nikolaus … Zwei alte Menschen siechen in diesem besonderen Fachgeschäft dahin, sie hungern ganz offensichtlich; die Frau sitzt an der Kasse, der Mann beginnt, als ich eintrete, geschäftig hinter der Verkaufstheke herumzuräumen. Als sie meinen Wunsch hören, blitzen die Augen der Alten auf. Wer kauft heutzutage Lampions? … Denn sie hoffen mit ewigem Optimismus, dass jetzt die erste Schwalbe gekommen, die Menschheit endlich wieder bei Sinnen ist und beginnt, Lampions und Papierschlangen zu kaufen. Ich bekomme Lampions, gebogene, längliche, solche, die wie ein Harmonikabalg aussehen, so viele ich nur will. – »Zeig ihm die Konfettis …«, ruft die taube alte Frau hinter der Kasse auf Deutsch. Mit zitternden Händen bietet der Mann seine Waren feil. »Und wie wäre es mit etwas Feuerwerk? …«, fragt er mit flehender Stimme. »Wir haben Knallfrösche, Raketen, bengalisches Feuer.« Das Angebot rührt mich zutiefst. Bedauernd gebe ich zur Antwort, dass die Zeiten ein wenig konfus seien und es nicht empfehlenswert wäre, an der Donau, am Rande des Dorfes, Abende mit Feuerwerk zu veranstalten, das könnte missverstanden werden. »Bitte, mein Herr«, sagt er aufgeregt. »Früher hatten wir um diese Zeit Saison. Aber jetzt, als wäre es plötzlich aus der Mode gekommen …«, meint er traurig. Vier Monate nach der Belagerung sagt er das, mit dem resignierten Achselzucken des Fachmanns, der weiß, dass seine Konkurrenten, ungelernte Pfuscher, in der jüngsten Vergangenheit ein Feuerwerk veranstaltet haben, von dessen Genuss das Publikum für längere Zeit genug haben wird.
Von hier in ein Eisenwarengeschäft, wo ich einen Riegel für die Tür des Ferkelverschlags kaufen will. Warum ist es in jedem Eisenwarengeschäft finster? Und warum wird in den Eisenwarengeschäften mit ganz besonderer Bedachtsamkeit getrödelt? Die Installateure und Eisenhändler führen ihre Buchhaltung und fakturieren anders als die Händler sonst; langsamer, komplizierter, umständlicher. Und in einem seriösen Eisenwarenladen brennt stets eine so schwache Funzel, als wollte man sich hier etwas von der Stimmung der Werkstätten der Zyklopen und des Vulcanus erhalten. Alte Männer kritzeln beim Lampenschein komplizierte Rechnungen, und im Zwielicht breitet sich Eisenstaub aus, als wäre wieder die Eisenzeit angebrochen, als gäbe es auf der Welt keinen Sauerstoff und keine Freiheit mehr.
Nach dem Treffen neulich blitzt mit voller Kraft, Schärfe und Licht ein Thema auf. Nach jedem Krieg gibt es Themen, die in der Luft liegen und sprießen … Nach dem letzten Krieg waren die »Banden« eines dieser Themen, das Thema der rebellierenden, gegen die Welt der Erwachsenen aufbegehrenden Kinder; Monate, bevor Cocteaus Enfants terribles erschienen war, hatte ich Die jungen Rebellen geschrieben, und die thematische Ähnlichkeit der beiden Romane wurde mir danach oft an den Kopf geworfen.
Ein überpersönliches, allgemeines Thema der europäischen Literatur wird jetzt die Heimatlosigkeit sein. Doch ich denke an etwas anderes und bin richtig aufgeregt, so sehr spüre ich die Möglichkeit, diese eigenartige Realität, die dieses Thema ausstrahlt: »Befreiung« . Über das Freiwerden schreiben! Wie jemand sich im Unerträglichen, im Keller, während der Belagerung, inmitten von Kadavern, in der Kloake, in der Schlinge der Schinder, in der Unterwelt nach der Freiheit, nach Licht sehnt. Und dann ist die Befreiung plötzlich da. (Eine Frau würde diese Szene für ihren Liebsten niederschreiben, für einen Mann, den sie nach der Belagerung wiedergetroffen hat, und in ihrer Zweisamkeit gibt es eine eigentümliche, unlösbare Fremdheit: Der Mann fühlt, dass mit der Frau »etwas passiert« ist, dass sie nicht mehr ganz die seine ist …) Die Frau beschreibt die Belagerung, die Pfeilkreuzler, den Keller, die Nächte und Tage im Keller, das Warten, das immer verzehrender, immer schrecklicher, unerträglicher wird; und dann die befreiung. Eines Morgens erscheint ein Russe im Keller. (Vielleicht der blonde Sibirer, der eines Nachts bei uns gewesen war.) Und vergeht sich an der Frau. Auf der Straße toben noch die Kämpfe. Und der Russe geht wortlos weg. Die Frau eilt ihm
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