Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
wahrlich eine kleine, neidische, kranke Seele; nach der Belagerung, nein, seit dem 19. März 1944, treffen wir uns das erste Mal, und er weicht wirklich überrascht zurück, weil ich »gut aussehe«, normale Kleider trage, mich die Zeit nicht so heftig geschunden hat, wie manche gehofft hatten. Er ist offensichtlich schlechter Laune und schneidet Gesichter, wenn er fragt, was ich denn »zu dieser Welt« sagen würde … Ich weiß nicht, was sie sich erhofft haben; die Menschen ließen mit offenen Augen, bewusst die Hölle auf Erden einkehren und wundern sich jetzt, dass es in der Hölle heiß ist? …
In einer Zeitung eine Nachricht über drei Spalten: Das Volksgericht bestraft endlich streng … wen? Die Faschisten? Nein, die Volksrichter, die regelmäßig den Verhandlungen der Volksgerichte fernbleiben.
Ich sitze im alten Literatencafé und korrigiere die Druckfahnen meines Gedichtbands … Ein sonderbares Erlebnis! Innerhalb des Sichverändernden die Beständigkeit der Phänomene. Und dann der Tod.
Ich fürchte mich vor nichts mehr, vor nichts; nicht vor Krankheit, Tod, menschlicher Gemeinheit, vor nichts. Nur vor meinem Gewissen; davor, dass ich irgendetwas begehe, das meine pathetischen, unheilbaren Vorstellungen über die honneur de l’homme verletzen würde.
Es genügt nicht zu lernen, dass wir von den Menschen nichts Gutes erwarten dürfen; man muss lernen, überhaupt nichts zu erwarten. Das ist schwieriger.
Typisch für das Leben in Ungarn ist, dass jetzt – nach der »Befreiung« – die Juden sich mit den Christen plötzlich und leidenschaftlich zu duzen begannen. Während es früher als eine abstruse Auszeichnung galt, wenn ein Gentry einen Juden duzte – »was man doch für die Familie nicht alles tut! …« –, sagte Görgey, der stolze Szepeser Vizegespan in Mikszáths Schwarzer Stadt , als ihn der einfältige Großvater Quendel um die Gnade des Duworts bittet –, beginnen Juden, mit denen ich seit Jahrzehnten in korrekter und freundschaftlicher, aber siezender Beziehung lebte, ja sogar wildfremde Juden, mich überraschend zu duzen. Diese großzügige Vertraulichkeit will beweisen, dass sie als »Sieger« nicht grollen, sondern großmütig sind; und dann auch von gleichem Rang und so weiter.
Ich lese die Fortsetzung von Greens Journal , seine Tagebucheintragungen zwischen 1935 und 1939. Ich vergesse das Buch auf meinem Schreibtisch, und meine Mutter, die zufällig hineinblickt – ihr Lieblingsautor ist Rudolf Hertzog ! –, sagt überrascht: »Interessant, wie einfach er schreibt.« Das ist ein großes Lob.
Wir haben jetzt schon ein Ferkel und fünf Legehühner, darunter ein schwarz-weiß gesprenkeltes. Uns wächst jetzt buchstäblich schon ein Doppelkinn, und wir setzen Speck an.
Aus dem Fenster der Schnellbahn sehe ich das Firmenschild eines Holzhändlers. Er propagiert sich folgendermaßen: Konstantinchen Markősy’s Holz- und Kohlenhandel . Dieser Mensch hat offenbar ein unbedingtes Verlangen nach Zärtlichkeit, auch wenn er Holzhändler ist; und diese narzisstische Selbstliebkosung ist wenigstens ehrlich.
Ich habe begonnen, den zweiten Band der Beleidigten zu schreiben. Dabei schreibe ich ihn noch gar nicht, formuliere viel mehr um, was letztes Jahr vom zweiten Teil handschriftlich entstanden ist, bevor die Arbeit unterbrochen wurde – Besatzung, Krieg, all das war ein guter Vorwand, die Arbeit liegen zu lassen. In Wirklichkeit bin ich – das merke ich jetzt – vor dieser Aufgabe geflüchtet, weil ich das Ganze falsch bemessen hatte. Ich dachte an vier Bände: Der erste und der dritte sollten Peter Garrens Tagebücher sein, der zweite und vierte Band ein äußerer Spiegel dieses Tagebuchs, in der dritten Person geschrieben. Dieser Plan war willkürlich, künstlich. Ich muss alles auf drei Bände verdichten, und es muss bis zum Schluss das Buch des Peter Garren bleiben, also ein Bekenntnis , vorgetragen in erster Person Einzahl.
Jetzt schreibe ich den Anfang des zweiten Bandes von der dritten in die erste Person um – dieses Training ist notwendig, um überhaupt mit dem Schreiben zu beginnen, weil der innere Widerstand gegen diese Arbeit immer noch sehr groß ist. Ich weiß, dass ich jetzt etwas »beende«, nicht nur ein Buch; ich muss in diesem Buch einen Erlebniszyklus, eine Botschaft abschließen. Die Protagonisten – Edgár, Albert, Tamás, Emma, leben wieder; und aus der Vergangenheit (aus der Vergangenheit der Jungen Rebellen ) tritt selbstsicher eine verschwommene
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