Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
zu sein: Die innere Beschaffenheit der tragenden Balken und Holzpfosten wurde durch den Luftdruck beeinträchtigt. So ein Bauholz hat keine stabile Tragkraft mehr: Wenn damit neue Häuser gebaut werden, kann es passieren, dass sie einstürzen.
Das Baumaterial ist unzuverlässig, ohne inneren Halt … Ja, und das Menschenmaterial? Wie sieht das Menschenmaterial der ungarischen Gesellschaft im Kern aus? Wem und was kann es standhalten, wie sehr hat der Luftdruck der Zeit die innere Struktur dieses Materials beeinträchtigt? Kann man denn aus diesem Material ein neues gesellschaftliches Gebäude errichten, erträgt es die schwere Last, welche die Zeit unerbittlich darauf lädt? Und dieses Menschenmaterial lässt sich nicht »austauschen« … Aber vielleicht imprägnieren; vielleicht.
» Tag des Buches .«
Das erste Mal stehe ich im Zelt. Ein paar Leute kaufen meinen Gedichtband, aber auch meine älteren Bücher finden Käufer, ich schreibe meinen Namen in die Bände, die mir fremde Menschen entgegenstrecken … und wie einer, der einen scheinbar gelähmten Nerv untersucht, versuche ich zu ertasten, ob in den Menschen noch irgendein Interesse für die Literatur vorhanden ist. Ob sie anderes als ihre Ernährung interessiert. Der Kunde könnte schließlich auch hundert Gramm Speck kaufen. Aber nein, es gibt viele, die auch heute lieber Bücher kaufen. Das erste Zeichen seit Monaten, das mich ein wenig beruhigt.
Peinliche und dumme Situationen im Zelt: wildfremde Menschen, die mich freundlich duzen, sich vertraulich mit mir unterhalten; und ich habe keine Ahnung, wer sie sind … »Öffentlichkeit«, die größte Prüfung. Aber manchmal bestehe ich diese Prüfung schon.
Die Ungarisch-Sowjetrussische Gesellschaft lädt mich zu einer Ausstellungseröffnung ein. Wir versammeln uns in einem der unversehrten Räume des Museums der Bildenden Künste: die Regierung, der russische Botschafter, hochrangige russische Offiziere, die Geladenen. Scheinwerfer. An der Wand Fotografien, auf denen russische Traktorenfabriken, Maschinenbauunternehmen abgelichtet sind. Dazwischen einige interessante Lenin-Bilder. Sein Geburtshaus wirkt herrschaftlich, barock. Das Familienbild aus seiner Kinderzeit ist sympathisch und bekannt: Die Würde und Ruhe der russischen kleinadeligen Bürgerfamilie wird auf dem Bild spürbar.
Während die Reden erklingen, beobachte ich den Regierungschef. Szent-Györgyi spricht. Es steckt etwas Mimenhaftes, Unausgewogenes in ihm. Zilahy, der Vorsitzende der Gesellschaft, irrt mit einem verlegenen und verlogenen Lächeln in der Gruppe umher. Die russischen Offiziere geben sich reserviert und desinteressiert. Das Schicksal des Ministerpräsidenten ist nicht gerade beneidenswert. Ein alter General, der heute vor einem Jahr noch mit vollem Engagement gegen die Russen kämpfte, dann, am 15. Oktober, stürzte diese Rolle auf ihn ein , und jetzt ist er Tag für Tag genötigt, seine Vergangenheit, seine Überzeugung zu verleugnen, gezwungen, den Großgrundbesitz wie die kleinen Güter aufzuteilen, den Vitéz-Titel, die Institution der Levente, abzuschaffen, die Sowjets zu verherrlichen … welch ein Schicksal! Und das alles im funkelnden Glanz der Scheinwerfer, in unbarmherzigem Licht.
Fünfundsiebzig Prozent des menschlichen Körpers sind Wasser und fünfundzwanzig Prozent feste Substanz; die menschliche Seele besteht zu neunzig Prozent aus Eitelkeit und zu zehn Prozent aus etwas anderem. Auch ich bin so. Und es ändert nichts an mir, dass ich es weiß: So bin ich.
Ich »verehre« nichts. Auch Gott verlangt nicht von mir, ihn zu verehren ; es reicht ihm, mächtig und souverän, wie er ist, wenn ich weiß, dass er ist.
Aber es gibt etwas, in dem ich Gott fühle: die Begabung. Und wenn sich Begabung und Charakter zu einem menschlichen Unterfangen verbünden: Dieses Phänomen erkenne ich auf jeden Fall an. Dieses Unterfangen kann ein Werk sein, aber es kann – einfacher – auch menschliches Verhalten sein. Und das respektiere, um nicht zu sagen verehre ich beinahe.
Ich höre von immer mehr heimgekehrten Deportierten, die von einem geheimnisvollen deutschen Arzt, einem gewissen Doktor Mengele, berichten. Dieser Dr. Mengerle oder Mengele war Chefarzt in der Todesfabrik von Auschwitz. Ein sehr höflicher Mensch. Mit den ihm zugeteilten jüdischen Ärzten fachsimpelte er gern über medizinische Probleme. »Bitte, Herr Kollege« , sagte er, »betrachten Sie einmal diesen Fall … Wie denken Sie darüber? …« Den FALL
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