Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Gestalt hervor: Ábel, der Zauberer. Nur die Lyrik kann all das zu einer Einheit zusammenfügen und das zeitgemäße Material in einen anderen Raum erheben … Ich gebe ihm so viel Zeit, wie nötig ist; beeile mich nicht; und inzwischen wende ich mich auch keiner anderen Sache zu, die Kraft von dieser Arbeit abziehen würde.
Freud täuscht sich in vielem, und er übertreibt. Doch er hat etwas berührt, das er nicht beweisen kann – die »analytische Erfahrung« ist noch kein Beweis – und was ich, der Mensch, der kein Freudianer und schon gar kein analytisch gebildeter Geist ist, aus menschlicher Erfahrung schon lange vermute. Das Verhältnis des Menschen zum Sexus ist eigentlich nicht geheimnisvoll; in jeder Variante drückt sich ein und dieselbe Kraft in dieser Formensprache aus. Was unklar ist: 1. Warum ist jemand homosexuell? Was glaubt der Homosexuelle in der Liebe zu finden? 2. Warum hasst keiner die Absonderungen und Exkremente seines eigenen Körpers, warum aber jene der anderen? Hier herrscht einige Unklarheit. Und hier liegt irgendwo das Geheimnis mancher menschlicher Störungen.
Die Zeit verleiht auch dem Gärprozess, der dieser Tage das ungarische Leben beherrscht, gewiss Kohäsion und Haltung – doch vorerst sehe ich nichts anderes als moralischen, wirtschaftlichen, geistigen Zerfall. Alles bröckelt, alles zerfällt, als hätte der Luftdruck der Bomben in der ungarischen Gesellschaft eine unsichtbare Erschlaffung in Gang gesetzt.
Prüfung in der Dorfschule. Acht-, neunjährige Kinder werden geprüft; die Ergebnisse sind erträglich; die Leistung der Lehrerin ist weniger erträglich. Ihr Unterrichtsstil ist geziert, süßlich, unaufrichtig; ihre Direktheit künstlich; ihre Stimme unnatürlich; sie stolziert auf und ab, spielt die Ungezwungene und so weiter. Die Kinder tragen Gedichte vor, Gárdonyis patriotische Gedichte und Vereitelter Vorsatz von Petöfi. Rührend ist das polnische Flüchtlingskind – ich glaube, es ist jüdisch –, das in radebrechendem Ungarisch, aber mit großem Eifer ein Gedicht vorträgt; es handelt von den Arader Märtyrern und schreit pathetische Klagen in die Welt hinaus.
Diese Kinder oder ihre Kinder werden eines Tages in der ungarischen Dorfschule bei der Prüfung vielleicht auch andere Gedichte vortragen; zum Beispiel irgendeinen von Kosztolányis kurzen chinesischen Versen ; doch dazu braucht es nämlich noch viel Zeit. Vorher muss die ungarische Nation – in und außerhalb der Schule – eine gefährliche, anstrengende und große Prüfung bestehen, die Prüfung der Bildung.
In Greens Tagebuch stechen mir folgende Zeilen ins Auge: »Gestern bin ich am Arlberg angekommen …« Oder: »Heute in London. Ich wohne in der Brompton Road, am Abend diniere ich mit Wells …« Oder: »Ich bin in Rom, Ausflug nach Frascati …« Und währenddessen, in Tirol, London oder Rom, hat er dauernd Sorgen wegen des »Romans«, der wächst oder langsam wächst oder gerade nicht wächst oder dem er nicht mehr vertraut … Es gab Zeiten, da entstand ein schriftstellerisches Werk unter solchen Umständen. Heute? … Würde ich Tagebuch über die Beleidigten führen, könnte ich höchstens schreiben: »Gestern habe ich mir ein schwarz-weiß gesprenkeltes Huhn besorgt …« Oder: »Heute bin ich mit der Straßenbahn bis zur Franz-Josephs-Brücke gefahren, es war eine herrliche und flotte Reise …« Oder: »Heute habe ich in der Veres-Pálné-Straße zu Mittag gegessen und meinen gasbetriebenen Kühlschrank veräußert.« Zweifellos ist auch mein Leben aufregend und abwechslungsreich; aber es ist gewiss nicht gerade das, was ich nötig hätte, um mit meinem Roman »voranzukommen«.
Seit einer Woche bezieht sich jeden Abend der Himmel – nach einem strahlenden Tag – so gegen sechs, und ein finsterer Sturm fegt übers Land. Der sich wiederholende Rhythmus der Naturerscheinungen ist wie der Ausbruch einer schwelenden Krankheit in einem Organismus.
Es gibt dieses und jenes. Den Krieg und den Frieden. Die Russen, Engländer, Deutschen und Ungarn. Und dann gibt es auch mich. All das, was in meiner Seele und mit meinen Nerven geschieht … denn auch dort ereignet sich die Welt, nicht nur auf der Berliner Konferenz oder bei den englischen Parlamentswahlen. Auf dieses andere Weltereignis – mein zerbrechliches, einmaliges und geheimnisvolles Leben – gilt es besser achtzugeben.
In den Zeitungen werden die Menschen gewarnt, mit den Baumaterialien aus Häusern mit Bombenschäden vorsichtig
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