Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
nach und findet den Vergewaltiger vor dem Haustor, tot. Es ist Morgen, ein berittener Kosak schiebt Patrouille, trottet mit seinem Pferd zwischen Glassplittern die »befreite« Straße hinunter. An der nahen Straßenecke wird noch gekämpft. Das ist der Rahmen.
Wichtiger ist, zu verstehen, dass niemand Befreiung bringen kann. Auch wir selbst sind nicht imstande, »frei zu werden«. Die Befreiung gibt es nicht.
Am Tag des Buches höre ich im Zelt, wie die Verkäufer mehrmals ein weiteres Exemplar von Wilders Brücke von San Luis Rey aus dem Lager abrufen. Dieses Buch lebt. Auf den zerstörten Budapester Straßen, inmitten dieses persischen Basars, erscheinen immer wieder Menschen und wollen genau dieses Buch kaufen, gierig und eilig, als wären sie darauf bedacht, schleunigst irgendein elementares Bedürfnis zu befriedigen. Dieses Buch ist einer der größten – vielleicht der größte – literarischen Erfolge des Jahrhunderts. Und das ist nur deshalb verwunderlich, weil es wirklich einer der schönsten Romane der Weltliteratur ist, ein kompromissloses Meisterwerk ohne Brüche und jedwedes Zugeständnis. Und es überlebt Weltkriege und belage run gen, die Menschen brauchen es wie Brot, wie Sonnenlicht. Wie tröstlich das doch ist!
Ich muss alles beiseitelegen und das Buch der Befreiung schreiben.
Und ich muss es in dritter Person schreiben, weil es dann wortkarger, dramatischer ist, die Lyrik des »Bekenntnisses« darf nicht verwischen, was an dem Thema gnadenlos, hart, nüchtern endgültig ist.
Was ist an diesen zwangsweisen Ausflügen nach Pest so unerträglich? Die Ziellosigkeit. Das Boot setzt mich am Pester Ufer ab … und dann? Es gibt einfach nichts, keinen, zu dem ich gehen könnte. Es gibt nichts zu tun. Es gibt nichts zu »erledigen«, auch dann nicht, wenn eigentlich Hunderte Sachen zu tun wären; weil die Stadt irgendwie keinen inneren Rhythmus, keine Haltung hat, das Leben hat auf diesem Üsküber Trödelmarkt keinen tieferen Sinn. Jeder lungert nur so herum, läuft einem Bissen Brot nach, mampft irgendwas, blinzelt, trollt sich verlegen in den Staubwolken, im dreckigen Licht. Der vollständige Zerfall, rohe Piraterie, alle Werte und Vereinbarungen haben ihre Gültigkeit verloren. Nach den Häusern stürzt jetzt in den Seelen der Menschen irgendetwas ein wie die beschädigten Brandmauern.
Buda ist beinahe erträglicher. Hier gibt es wahrlich nichts anderes als Kadaver und Ruinen. Hier spielt auch keiner Staat und Hauptstadt. Die Menschen leben in den Ruinen, wie sie einstmals wohl in Karthago nach der Zerstörung gehaust haben: Sie stochern im Schutt nach alten Gefäßen, irgendwelchem Brennmaterial, nach etwas Essbarem. Das ist wenigstens real.
Es bestürzt mich immer mehr, wie anspruchslos diese linke »Elite« ist. Sie kann der entschwundenen rechten, sich als »Elite« ausgebenden, Clique nicht viel vorwerfen. Genau die gleiche geistige Einseitigkeit, Ungeduld, Knausrigkeit und Habgier.
Lektüre: Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch und Die Kreutzer-Sonate . Wie oft schon? Ich weiß es nicht. Vielleicht zum fünften oder sechsten Mal.
E. , der im Zuchthaus Csillag zu Komárom, in Dachau und in einer deutschen Kohlengrube war, flog dann – als der tschechisch-amerikanischen Legion zugeteilter Deportierter – für ein paar Stunden nach Paris, von dort nach Prag und schließlich nach Hause. Auch Dachau hatte seinen Dr. Mengele, der jede Woche beim Appell mit einer Handbewegung entschied, wer von den Deportierten arbeitsfähig war und wer in den Tod ging. In jedem deutschen Lager gab es einen dieser allerhöchsten Spezialisten.
Von Paris erzählt er, dass es niedergeschlagen sei, hilflos, elend, lustlos. Er hat München gesehen, es ist ein einziger Schutthaufen. An der Grenze, als er – in amerikanischer Uniform – vor Prag stand, wurde er von den Russen ausgeraubt: Sie nahmen ihm die hundert Dollar ab, die er von den Amerikanern bekommen hatte, auch seine Konserven und so weiter. Er brachte nur einen wunderbaren Regenmantel mit nach Hause, ein amerikanisches Stück: Es ist aus irgendeinem Papiermaterial gefertigt, man kann es nur einmal tragen und muss es dann wegwerfen. Und die Konservendose, die den lukullischen Inhalt für eine einzige Mahlzeit barg, und auch Zigaretten und Kaugummi …
Seit anderthalb Jahren das erste Mal im Kino. Boom Town mit berühmten amerikanischen Schauspielern. Eine halbe Stunde ertrage ich es, dann ist mir übel, und ich gehe auf die Straße hinaus, in die
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