Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Zimmer; hier kochen wir, schlafen, waschen uns, hier warten wir tagsüber auf die Nacht, in der Nacht darauf, dass es Tag wird. Die beiden Frauen dürfen sich nicht einmal in der Küche aufhalten, weil dort Arbeitsdienstler den ganzen Tag Kartoffeln für die Russen schälen. So ist die Lage seit drei Tagen und noch auf unabsehbare Zeit; im Garten stehen marode Autos und Lastwagen in Reih und Glied, vor unserem Fenster heult der Wagen mit dem Stromgenerator; wilde Mechaniker kommen und fummeln an verreckten Motoren herum; so leben wir.
Und dieses Leben ist nicht das Schlimmste. Meine Mutter und alle die Menschen, die mir wichtig sind, leben im belagerten Budapest schon die vierte Woche unter schrecklicheren Umständen – wenn sie denn noch am Leben sind –, daran denke ich, wenn ich manchmal müde geworden bin. Denn mit anderthalb Dutzend wildfremden Menschen, deren Sprache ich nicht verstehe, in zwanglosester Vertraulichkeit zu leben, durch die dünne Tür das nächtliche Stöhnen, das Schnarchen, die plötzlichen und überraschenden Schreie zu hören, zu ertragen, dass sie jede Schublade öffnen, in jedem Schrank ungeniert herumkramen und dass man für keinen einzigen Moment allein ist: All das ist sehr ermüdend. Doch das sei woina , wie sie sagen, und dabei zucken sie mit den Schultern; und wahrhaftig, wir beklagen uns nicht, auch nicht untereinander, denn nicht nur dies ist woina , sondern irgendetwas sehr viel Furchtbareres und Verhängnisvolleres. Und schließlich ist zu allem Überfluss diese Situation nicht nur ermüdend und kompliziert, sondern auch lehrreich und interessant.
Kein Tier kann sich so blitzschnell und flexibel an neue Situationen anpassen wie der Mensch: die erste Erkenntnis. Die zweite: Diese Russen, die sich mit Haut und Haar in unserem Leben eingenistet haben, sind mit wenigen Ausnahmen wohlwollend und menschlich.
Es gibt alle Möglichen unter ihnen: einen kleinen Usbeken aus Taschkent, Hassan, er ist ein klein gewachsenes, stummes und blinzelndes Männlein, geschickt wie ein Äffchen; Fjodor, der fette Bauer, ist die personifizierte kindliche Gutmütigkeit, ein älterer Mechaniker, der niemals am Kind vorbeigeht, ohne ihm über den Kopf zu streichen, ohne ihm einen Apfel zu geben, und all die anderen: eine merkwürdige, bisher unbekannte menschliche Situation, die ich in diesen außergewöhnlichen Tagen durchlebe. Jetzt verstehe ich den russischen Schuster in Krieg und Frieden , der Pierre Besuchow die Besonderheiten des russischen Menschen offenbart. Es gibt unter ihnen ein paar unvergessliche Gestalten; auch zwei Juden, die wenig über ihr Judentum wissen, darüber, dass es Schicksal ist, ein Jude zu sein; sie essen getrennt, außerdem haben sie aber nicht wirklich eine Ahnung von dem, was mit den Juden in der jüngsten Vergangenheit in Ungarn und anderswo geschehen ist – sie haben davon gehört, doch für sie ist das nicht überraschend, weil sie wissen, dass die Deutschen eigentlich alle ausgerottet haben, wo immer sie einmarschiert sind, Juden und Nichtjuden, die Intelligenzija … Mongolen, Juden, Weißrussen, Ukrainer, Tschuwaschen, Kirgisen: Mit ihnen leben wir jetzt in eigenartiger Vertrautheit, unter dem Dach eines kleinen Hauses. Am Abend sitzen wir gemeinsam am langen Tisch, ein Offizier liest Kriegsberichte vor, wir spielen Schach, und man erklärt mir, wie das Leben in Russland ist. Übereinstimmend versichern sie mir, sie seien mit den Zuständen zu Hause zufrieden, seien des Krieges schon sehr überdrüssig, sie hassten die Deutschen und sehnten sich nach ihrer Heimat.
Tagsüber kommen hoch-, ja höchstrangige Offiziere zu einem Kontrollbesuch vorbei, so etwas erlebe ich das erste Mal. Auch im europäischen Sinne sind sie makellos auftretende Herren, die bestens gekleidet und mit auffälligen Rangabzeichen geschmückt sind; sie erscheinen – in Manier und Auftreten zumindest auf den ersten Blick – wie englische oder französische Oberste, Generäle. Kommen in Begleitung und werden von einem abgezirkelten, salutierenden Halbkreis mit einem steifen »Habt acht!« empfangen. Diese Offiziere haben weiße Hände, sie sind Männer von Welt. Vieles ist anders, als wir es im letzten Vierteljahrhundert gehört und gelernt haben.
Am Abend, im Schein einer flackernden Lampe, erklären mir meine mongolischen und kirgisischen Schlafgänger, wer ein Burschui ist. Die Jüngeren kennen Burschuis nur noch vom Hörensagen; für sie ist dieser Begriff wie eine Figur aus einem
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