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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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offensichtlich glücklich; während ich diese Zeilen schreibe, arbeitet er vor sich hin, pfeifend, er repariert den Herd in der Küche. Was seine Verhältnisse und seine Situation betrifft, vollbringt er eine wahre Heldentat der Gefühle; das Dorf beobachtet die wilde Ehe voller Gleichgültigkeit. Wie endet das Ganze? Das zu beobachten wird sich lohnen und nicht uninteressant sein.
    Die letzten Briefe Wildes aus Frankreich an Robert Ross .
    So darf man nicht enden. Der »König des Lebens« soll zum Schluss nicht Fünfpfundnoten vom Leben erflehen. Er hat in der Tat die Ballade vom Zuchthaus zu Reading geschrieben … Vielleicht war das der Sinn all dessen, was er zuvor genossen und danach gelitten hatte.
    Der Krieg ist noch nicht zu Ende, die Deutschen können hier und dort noch mit Überraschungen aufwarten; doch der ungarische Horizont ist jetzt schon sichtbar und überschaubar. Was dämmert an diesem Horizont? Permanente Zwangsarbeit, mit Hunger und Seuchen garniert; allein das Abtragen der Ruinen in den zerstörten Stadtvierteln bedarf vieler Jahre Arbeit; vom Wiederaufbau kann man wegen Mangels an Material, Industrie, Transportmitteln nicht einmal träumen. Das völlige Fehlen geistiger Freiheit; die »Freiheit« wird wiederum nur so weit reichen, dass man über die ehemaligen Gegner schimpfen darf, verboten sein aber wird zu kritisieren, was in der Gegenwart zu stinken beginnt. Jeder höhere geistige Anspruch wird wieder in weltanschaulicher, politischer Zensur und in der Gleichgültigkeit des Elends ersticken. Nicht nur der Aufbau der Städte ist eine Illusion, auch die Bestellung der Felder – ohne Verkehrsmittel und Zugtiere – kann man sich nicht anders vorstellen als mit menschlicher Kraft, irgendwie so, dass man Frauen und Männer vor den Pflug spannt; völliger Bankrott.
    Übrig bleibt ein Land, das mit der Hacke vielleicht genug Kartoffeln produzieren kann, damit es nicht verhungert.
    Wilde beschreibt in seinem letzten Brief einen Abend, an dem er – in einem Pariser Gasthaus – mit seinem Biografen Frank Harris darüber diskutiert, ob Jesus homosexuell gewesen sei und Judas’ Verrat nichts anderes war als die Wut des enttäuschten Geliebten, der die Erfolge des jungen Günstlings Johannes nicht ertrug … Vom Nachbartisch – schreibt Wilde – lauscht Maeterlinck mit begierigem Gesichtsausdruck. Man sieht ihm an, wie weh es ihm tut, dass er nicht Englisch kann.
    Das ist die charakteristische Betrachtungsweise des Monomanen; überall wittern Wilde und seine Genossen den Sexus, und überall vermuten sie Alibis. Die Wirklichkeit ist viel einfacher; in gewissem Sinne ist jeder Mensch homosexuell; es hängt allein vom Maß und vom Charakter der Manifestation ab, wie sehr er es ist.
    Ich sortiere meine Manuskripte und bin bestürzt: Sieben fertige Bücher warten darauf, publiziert zu werden, aber ob auf Ungarisch jemals noch ein Buch aus meiner Feder erscheinen wird? Und vier weitere, begonnene, warten darauf, abgeschlossen zu werden, wenn ich am Leben bleibe.
    Nonum prematur in annum ? Zu wenig. Vierzig Jahre wären nötig, damit ein Mensch einige Bücher schriebe – zwei, höchstens drei – und dann noch einmal vierzig Jahre, in denen er diese zwei, drei Bücher vom Anfang bis zum Schluss umschreibt, verbessert. So aber, in diesem schrecklich schnell verrinnenden Leben, hab ich für weniger als fünfzig, sechzig Bücher keine Zeit.
    Eine schlaflose Nacht. Ich kann nirgendwohin. Budapest ist ein brandiger Seuchenpfuhl, der Abfallhaufen des Elends; und das Land? … Es gibt keine Eisenbahn, keine Autos, zumindest nicht für mich; und wie dann? Mit einem Bündel auf dem Rücken, wohin und warum? Lohnt es sich? Das ist keine rhetorische Frage mehr. Ich fürchte mich vor nichts, fühle aber, dass ich langsam aller Dinge fürchterlich überdrüssig werde und alles verachte.
    Wie geradeheraus die Menschen jetzt sind, mit jedem Wort, in allem Tun: wie bedingungslos, wie unverschämt sie Menschen sind! Es gibt nichts außer nacktem Egoismus, er entscheidet über Leben und Tod. Es gibt keine Sitten mehr, keine Heuchelei, kein Verschleiern. Jetzt wird es handgreiflich, Brüderchen! Beinahe schön ist das, wie alles, was vollkommen ist! – wie der Mensch sich in diesen Zeiten bedingungslos und in all seiner Hinterhältigkeit offenbart!
    Es ist sehr schwer, für mich schon fast unmöglich: mich mit dieser Darbietung der menschlichen Feigheit, des Egoismus, der Lüge zynisch abzufinden. Es wäre gut, einfach

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