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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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problemlos weiter bestehen; es ist kein »Meisterwerk«; es ist unvollkommen und obendrein überflüssig. Trotzdem gibt es Zeugnis von etwas, verleiht etwas eine Stimme, drückt etwas aus und erweckt etwas zum Leben, das niemals überflüssigerweise ausgedrückt und zum Leben erweckt wird: Es erzählt von der Leidenschaft. Von jener Kraft, die der tiefste Sinn jedes Wesens und allen Daseins ist.
    Ich habe kein Zuhause, und es gibt – in der Nähe – keine Stadt, in der ich ein Zuhause finden könnte; ich habe kein Zimmer, in das ich aus den Budaer Ruinen die wenigen Möbelstücke, Bücher, die Kleider, die unter der eingestürzten Decke brauchbar geblieben sind, hinschleppen könnte; ich habe kein Transportmittel, keinen menschlichen Gehilfen, überhaupt nichts. Die Diebe und das Wetter vernichten auch noch das wenige, das zwischen den Ruinen übrig geblieben ist. Mach dir nichts vor, du hast nichts!
    Dieser Schiffbruch muss dennoch überlebt werden. Wo? Na hier, wo ich gerade bin, in diesem Haus im Dorf oder anderswo, doch überall mir selbst überlassen, ohne Freunde und ohne Hilfe, ohne Werkzeuge, ohne Einkommen, ohne Grund und ohne Boden. Wie? Wie ich es eben schaffe. Wenn ich die zwei Jahre überlebe, so wie ich es mir vorgestellt habe, und alles schreibe, was ich in diesen zwei Jahren schreiben will, und in diesen zwei Jahren Englisch lerne: dann kann ich hoffen, dass ich es aus dieser Robinsonade ins Ausland schaffe. Nichts hält mich mehr hier; dieses ungebildete Land leckt noch lange seine furchtbaren Wunden, und ich würde helfen, diese Wunden zu verarzten, wenn ich an die moralischen Fähigkeiten dieses Landes glauben könnte. Doch ich glaube nicht mehr an die Moral der ungarischen Nation. Ein Volk kann sich nicht ewig auf seine »Unterdrücker« und »Verräter« hinausreden; jedes Volk wurde im Laufe seiner Geschichte unterdrückt und verraten; ein Volk, das über charakterliche und moralische Stärke verfügt, entledigt sich beizeiten seiner Unterdrücker und Verräter. Der Ungar hat sich nicht von ihnen befreit, in seiner Erbärmlichkeit war er lieber ihr Komplize, zur selben Zeit, als er auch ihr Opfer war. Ich muss fort von hier, denn dieses Volk ist nicht zu jener moralischen Kraftanstrengung bereit, von der die Schweden, die Dänen, die Niederländer, die Finnen, die Engländer in kritischen Zeiten ihrer Geschichte durchdrungen waren; der Ungar hat kein moralisches Verantwortungsgefühl. Und das wird auch jetzt nicht besser, da die inneren Kräfte, erst durch äußere Mächte in bewegung gebracht, mit den »Verrätern« und »Unterdrückern« abrechnen werden. Es wird nicht besser, denn das Material, seine Beschaffenheit, verändert sich nicht.
    Wie kann man diese zwei Jahre überleben? Mit Beharrlichkeit. Mit Entschlossenheit, unerbittlichem Durchhaltevermögen, sturer Kraftanstrengung, wie Stanley sich in der Strömung des Kongo durch Afrika schleppte oder Proust im Krankenbett seine Werke verfasste. Stärker sein als die Umgebung, als die Lebensumstände, die menschliche Umwelt, sich der Not, der menschlichen Niedertracht, Seuchen stellen, sich vor nichts fürchten, sich mit Klauen und Zähnen durch dieses schreckliche Geflecht kämpfen, das einen mit seinem bösartigen, phantastischen Urwaldgestrüpp umgibt … Funktioniert das? Es funktioniert. Allem entsagen, auf jede Möglichkeit warten, jeden Tag arbeiten, sich vorbereiten, nicht beleidigt sein und nicht ermüden; warum? Weil das das Leben ist, das Gebot meines Lebens, weil ich mich den hinterhältigen Mächten, die eine Welt zerstörten, nicht geschlagen gebe. Zäh muss man bleiben wie ein Baum, ein Fluss, wie die Erde. Bleiben, bis einen der wirkliche Tod ruft – nicht der durch Unfall, der des Schlachtviehs, der zufällige.
    In der kleinen Bücherei finde ich ein paar ältere Ausgaben meiner Bücher – die tschechischen, deutschen, französischen, ungarischen Ausgaben meiner Romane. Ich blättere in diesen Büchern.
    Ich verleugne diese Bücher nicht, es ist jedoch gewiss, dass mir in den letzten Jahren das Schreiben schon zu leicht gefallen ist, der Widerstand in dem, was ich sagen wollte, zu gering war, alles war zu musikalisch und überhaupt ein wenig »zu« … Auch das ist vorbei. Und dazu habe ich mich nicht entschlossen, ich weiß es eben, dass diese lockere Schreib- und Ausdrucksfertigkeit für mich ein Ende gefunden hat.
    Ein Mensch.
    Während der ungarischen Räterepublik ist er Ermittler der Staatspolizei. Nach dem

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