Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
den nächsten Keller zog, um sich zu verstecken, und so weiter.
Dieser Protest ist die erste Schwalbe. Es wird jetzt lange so weitergehen: Jeder wird protestieren, weil der andere nicht genug leiden musste oder nicht auf die gleiche Art oder mehr Glück hatte, weil man ihm nicht die Haut abzog, sondern nur beide Ohren abriss, während ihm, dem Protestierer, auch die Brustwarzen kupiert worden sind … So etwas wird bald widerhallen, noch für lange Zeit.
Ein gesegneter Abend. Ich schreibe drei achtzeilige Gedichte , darunter eines über die zerstörte Lógodistraße. Die Straße, das Haus, ich sehe sie klar vor meinen Augen, auch den Fußabdruck, der in der Abschlusszeile erwähnt wird; und den Schuh aus Schlangenleder, der diesen Fußabdruck hinterlassen hat.
Für die Sammlung der kürzeren Prosastücke habe ich endlich einen Titel gefunden. Nämlich diesen: Schwäne, Rosen, Heilige . Der Titel passt genau. Und auch das Buch hat jetzt seinen wahren Sinn und seine Form erhalten, jetzt, da es einen richtigen Titel hat.
In den folgenden zwei, drei Jahren muss ich mit außerordentlicher Kraft arbeiten, damit alle glauben, ich würde nichts tun.
Ich lese Kosztolányis Aufsatz über Rilke . Dichter übertreiben manchmal, Kosztolányi schreibt in der Einleitung über die Slawen, über die geistigen und physischen Ahnen Rilkes, des großen Dichters. Folgendes schreibt er über die Slawen: »Sie können nur geben. Anderen etwas wegnehmen können sie nicht.«
Ich lese diese Zeilen mit nachsichtigem Kopfnicken. Dichter übertreiben. Aber das ist schön so, und deshalb sind sie Dichter.
L. wünscht sich Frieden und Vergebung; unsere Diskussionen sind kompliziert, wir verstehen einander nicht. Sie will allen vergeben, die »gut zu ihr waren«, auch wenn sie Faschisten waren, Pfeilkreuzler oder Nazis, aber »ihr persönlich nichts angetan haben, ja ihr sogar eine Schüssel Sauerkraut zukommen ließen«, wie unsere Nachbarn, diese korrupten bürgerlichen Nazis.
Ich bin auch kein Freund der individuellen Rache. Ich bin für keine Form der Rache. Beurteile das Menschenmaterial ohne jede Hoffnung. Ich glaube an die Moral der Rächer nicht eher und nicht mehr als an die Bereitschaft der zur Rache Verurteilten, sich zu bessern. Doch was soll ich mit solchen Begriffen wie »Nazis« und »Pfeilkreuzler« und »Faschisten« anfangen? Gegen die Begriffe kann ich mich nicht wehren, und es wäre auch völlig sinnlos. Menschen indes, die »Nazis«, »Pfeilkreuzler« oder »Faschisten« waren – offen oder mit Vorsicht, Letztere sind vielleicht schlimmer, weil es schwieriger ist, sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen! –, haben alles zerstört, was edel und wertvoll war, sie haben die Kultur zerstört, das Land, Budapest, Europa. Und sie haben meine Freunde umgebracht, meine Verwandten und auch L.s Vater .
Soll ich denn jetzt sagen, dass alles beim Alten bleiben und nichts geschehen soll? Diese Menschen sollen sich weiter organisieren, verleumden, Gendarmen und Banditen verstecken, sich auf neue Schandtaten vorbereiten, unversehrt, unbehelligt, ohne Kontrolle, weil der eine oder andere eben mir persönlich nicht besonders geschadet, ja mir vielleicht in den Tagen der Not eine Schüssel Sauerkraut geschickt hat? Diese durchtriebenen Halunken der Korruption und Reaktion sollen also ruhig auch in Zukunft Bestechungsgeld kassieren? Ihre Sünden sollen verschwiegen werden, ihre Verbrechen brauchen sie nicht wiedergutzumachen, weil sie vielleicht gerade mir nicht geschadet haben, ja zu mir persönlich oder zu den Meinen freundlich gewesen sind? Warum beschweren wir uns dann, wenn diese Kräfte mächtiger sind, und darüber, dass sie, wenn der rechte Augenblick gekommen ist, wieder zu morden und zu rauben beginnen?
Nein, ich will keine Rache, keine Prävention. Aber aus dem Verkehr ziehen, wer flüsternd oder fleißig an einer der größten Schandtaten der Menschheitsgeschichte mitgewirkt hat. Jeden zur Arbeit und Wiedergutmachung zwingen, der zerstört hat oder die Zerstörung und die Morde guthieß. Ich will bedingungsloses Zur-Rechenschaft-Ziehen, ein gerechtes Urteil und kein achselzuckendes Vergeben.
L. wünscht sich Frieden … sie wünschte sich immer und in allem Frieden, Ausgleich, »Diplomatie«. Und gewiss hatte auch ich wie jeder Mensch diesen Hang zur Harmonie. Doch ich hatte auch den Hang zum Aufbegehren, zum Anderssein und zum Widerstand; und die wahre Verantwortung in unser beider Beziehung bestand gerade
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