Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Arbeit abzuschließen, wie es sich gehört.
Auf die Frage, ob es Gott gibt oder nicht, kann ich nichts erwidern, denn Gott ist – wenn es ihn gibt – mir noch nie in sichtbarer, wahrnehmbarer, für menschliche Begriffe fühlbarer Form erschienen. Ich weiß nur, dass es im Verhältnis zwischen Mensch und Welt und in allem, das ich in mir, in meinem Schicksal und über den Zusammenhang der Phänomene in der Welt erfahren habe, eine Ordnung gibt. Und diese Ordnung ist nicht menschlich; sie ist mehr als das, komplizierter, manchmal unverständlicher; dennoch Ordnung; eine überirdische, göttliche Ordnung. Diese Ordnung mag manchmal wie Unordnung erscheinen, wie schreckliches und unverständliches Chaos, tragischer Widersinn; und später verstehen wir, dass da trotzdem Ordnung herrschte, der Schrecken war unbarmherzig eine Folge bestimmter Voraussetzungen, es konnte gar nicht anders sein. Und dann verstehen wir, dass diese höhere Ordnung, die jede Erscheinung unerbittlich zurechtrückt, fortbewegt, zum Ziel führt, nicht menschlich, sondern übermenschlich ist, die Offenbarung göttlicher Macht.
Doch diese Ordnung, die göttliche Ordnung, ist keine tote, kategorisierende, geometrische Ordnung. Lebendige Ordnung herrscht über der Welt.
Und so kann ich nicht wissen, ob die göttliche Absicht irgendetwas damit bezweckte, dass ich die Belagerung überlebt habe und so überlebt habe, wie es geschehen ist – weit weg vom grauenhaften Schlachtfeld, das irgendwann einmal Budapest geheißen hat. Jetzt, da ich das zerstörte Buda gesehen habe, wäre es leicht, in die eitle Vorstellung zu flüchten und zu glauben, Gott hätte noch irgendetwas mit mir vor, mich deshalb ausgesondert, gerettet. Doch das ist überhaupt nicht sicher. Denn in Buda haben die meisten die Belagerung überlebt – viel mehr, als gestorben sind –, und es ist sicher, dass die »lebendige Ordnung« das so als richtig und rechtens befunden hat; und wenn es damals nicht geregnet hätte und wir in die Mikógasse gefahren wären und ich dort im Keller diese fürchterlichen acht Wochen überlebt hätte, wäre das auch rechtens gewesen, Gott hätte mir auch dadurch gezeigt, dass er mit mir etwas vorhat. Und wäre ich in den Angriffswellen der Belagerung zugrunde gegangen wie so viele andere: Es wäre ein Einfaches zu sagen, dass der Weltgeist keine Pläne mehr mit mir gehabt, er mich verbraucht und fortgeworfen hätte und so weiter. All das können wir Menschen niemals verstehen; die »lebendige Ordnung« erklärt nicht … Doch was ich verstehe und in allem, im Kleinen wie im Großen, erfahre, dass die Natur auch in ihrer maßlosen Verschwendung nichts ungebraucht beiseite wirft; Pflanzen genauso wenig wie Insekten, Tiere oder Menschen; davor presst sie noch alles, was zur Erreichung ihrer Ziele notwendig ist, aus ihnen heraus, und erst dann vernichtet sie oder erlaubt, dass etwas zugrunde geht. Und deshalb könnte ich in der unermesslichen menschlichen Eitelkeit, die in unser aller Leben eine Grundeigenschaft ist, glauben, dass die Natur mit mir noch etwas vorhat, weil sie mich bei dieser großen Gelegenheit, in der viel zugrunde gegangen ist, nicht auslöschte: Vielleicht will die Weltmacht noch etwas von mir, vielleicht muss ich Bücher schreiben, die nur ich schreiben kann und so weiter. Aber das ist eitles Geschwätz. Weil ich nicht wissen kann, ob ich nicht heute oder morgen sterbe, bei einer neuerlichen Belagerung oder unter anderen Umständen als der Belagerung – vielleicht an einer Lungenentzündung, zwischen Kissen im Bett –, oder ob ich nicht vielleicht in den Freitod gehe; und es ist überhaupt nicht gewiss, ob es noch Bücher gibt, die »nur ich schreiben kann«? Wissen oder verstehen werden wir das nie. Ich begreife nur, dass alles seine Ordnung hat, eine lebendige Ordnung.
Fastenwind. Diese Tage und Nächte vor Ostern, da alle mit ihren Reserven am Ende sind: Der menschliche Organismus, die Bäume, die Erde, alles ist arm an Vitaminen. Und die menschliche Seele und das Nervensystem heulen gemeinsam mit diesem hämischen Sturm und fühlen, sie halten es nicht mehr länger aus. Aber dann ertragen sie es doch.
Was hat ein Buch wie Die Schwester für einen Sinn? (Ich schreibe die letzten Seiten, und ich schreibe sie mit den letzten Reserven meiner Nerven …) In angenehmem Erzählstil über irgendwelche menschlichen Zufälligkeiten, Austauschbarkeiten berichten? Ist das »Literatur«?
Natürlich würde die Welt ohne dieses Buch auch
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