Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
die Achseln zucken zu können: So sind die Menschen eben? … Doch wozu dann leben? Und wenn ich auch weiß, dass sie hoffnungslos sind, wenn ich auch nichts dagegen tun kann: Trotzdem will ich mich nicht damit abfinden, niemals!
Seit einer Woche bläst Tag und Nacht der Nordwind. Dieses einsam stehende Haus am Hügel mit seinen schutzlosen Mauern wenigstens lauwarm zu heizen wäre auch dann ein schwieriges Unterfangen, wenn wir genügend Brennholz hätten. Der Wind schindet die Landschaft, knüppelt die Mauern, das Ziegeldach, lässt die Donau stöhnen und die Pappeln ächzen. März, dieses böse Geheimnis des Jahres.
In dieser Zeit drängt alles hervor, und nicht nur die Revolutionen brechen aus. Als stöhnte der Krieg in seiner stechenden Wut. Wilde Kräfte kämpfen, zanken, in der Erde, in der Luft und unter den Menschen. Innerlich zitternd beobachte ich uns in diesem Sturm am Ende des Winters, in einer Art Bereitschaft und Entschlossenheit, deren wirklichen Zweck, deren Sinn ich nicht benennen kann.
Illyés’ Buch vom Pusztavolk. Ein hervorragendes Buch, reich, aufrichtig. Aber auch dieses Buch kann mich nicht davon überzeugen, dass das Volk der Puszta nicht auch selbst verantwortlich für das ist, was ihm in den vergangenen Jahrhunderten geschah; und nicht allein der Graf und später der jüdische Großpächter.
In einigen solchen Büchern finden wir die Kenntnisse über unseren Stand – Kleinhäusler, Proletarier, Bürger, Aristokraten – mit gleichsam topografischer Genauigkeit dargelegt. Und nichts ist geschehen; ein paar Presseprozesse, das war alles, womit die Nation auf solche Geständnisse reagierte. Jetzt geschieht etwas; doch wieder handelt nicht die Nation, sondern fremde Mächte statt ihrer und in ihrem Namen.
Jeden Span, jedes kleine Reisigstück, die ich ums Haus herum fand, habe ich schon aufgesammelt. War geschäftig wie eine Figur auf den Bildern von Millet oder Corot. Das ist zweifellos nützliche Arbeit.
Aber doch völlig überflüssig. Wenn alle erzieherischen Versuche der Bildung nur dafür gut waren, dass die Welt in diesen urzeitlichen Zustand zurückfällt, dann ist gewiss, dass wir mit irgendetwas aufhören müssen: entweder mit der Bildung oder damit, dass Schriftsteller Reisig sammeln. Beides zusammen ist ein sinn- und zweckloses Unterfangen.
Ich lese Kosztolányis postum erschienenes Buch Die Genies . Diese genauen Beschreibungen hat er vor zehn, fünfzehn Jahren verfasst, Berichte zu bestimmten Anlässen, Theaterkritiken, spontane, nicht lange überlegte Bemerkungen. Die lebendige Kraft seiner Worte begeistert mich auch heute noch. Er war in seiner Direktheit unübertrefflich; wie er sofort auf das kam, was er sagen wollte; aufs Wesentliche und mit aufregenden, glänzend ausdrucksvollen Worten. Das konnte – ungarisch – keiner so wie er, nicht vor ihm und auch nach ihm nicht.
Er spricht mit großer Hochachtung über Shakespeare, Horaz, von János Arany … doch diese »Hochachtung« sprüht nur so von Zweifel und von Spott. Eigentlich hat er keinen und nichts geachtet, auch nicht den Geist. Er, gerade er wusste so gut wie nur sehr wenige, welche Zufälle und obskuren Umstände gegeben sein müssen, damit ein geistiges Meisterstück entstehen kann … Doch durch seinen Spott schimmerte immer wieder die Anerkennung des Komplizen, mit der er ein Meisterwerk, wie zum Beispiel den Hamlet , würdigte … Es ist nicht das dämliche Staunen eines Gläubigen, nein. Es ist das anerkennende Zungenschnalzen des Fachkundigen und das verständnisinnige Aufblitzen in den Augen des Komplizen. Er wusste, dass jedes Meisterwerk sich auch aus kleinen geistigen Schandtaten zusammensetzt, aus Mogeleien, Willkür, Zufall, Gewalt; nicht nur aus Pathos, Inspiration und Wissen.
Wenn ich am Leben bleibe, wird meine einzige Lebensaufgabe sein: Ich muss zehn Bände lang schweigen.
Gebt mir das Meer zurück, das Meer! Und smaragdfarbenen Wein, einen Orvieto oder blutroten Veroneser! Und Wärme, goldene Wärme! Und eine Stadt, in der zwischen den alten Mauern Frauen und Dichter leben! Alles andere könnt ihr mitnehmen, in Gottes Namen.
Ich lese in einer Zeitung, die sich hierher verirrt hat, dass »ärztliche Kreise« gegen die Ernennung eines bekannten Budapester Medizinprofessors, eines Juden, protestieren, weil der Betreffende unter dem Schreckensregime der Pfeilkreuzler Vorteile genossen, also nicht genug gelitten habe. Er durfte in seiner Achtzimmerwohnung bleiben, während X. von einem in
Weitere Kostenlose Bücher