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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Prophylaxe zu schützen. Menschen anzuzeigen ist nicht mein Brot, ich habe noch nie jemand dem Henker oder der Polizei ausgeliefert; und ich habe auch nie jemanden angeschwärzt. Jede Beleidigung habe ich ertragen, solange sie nur mich betraf. Doch habe ich denn das Recht zu schweigen, wenn ich sehe, dass in dieser ungarischen Erde die Krankheitserreger der Reaktion weiterhin sprießen, wenn ich sehe, wie sich die gleichen Kräfte organisieren, die alles, was ihren eigenen Interessen im Wege stand, zerstört haben? Soll ich schweigen, wenn diejenigen, die diese sadistischen Gendarmen – die diensteifrig oder mit wilder Leidenschaft grausam und massenhaft gemordet haben – decken und aufhetzen, mit nachsichtigem, mitleidigem Lächeln von den »kleinen Pfeilkreuzlern« sprechen, die »eigentlich gar nichts Besonderes getan haben, sondern arme, irregeführte Menschen waren, lassen wir sie doch laufen«, und so weiter? Dieser Standpunkt heißt Mittäterschaft, ist bequem, verlogen, unmoralisch. Denn zum Juden wird man nicht – um gerade bei der Judenfrage zu bleiben, die nur ein Nebenkapitel des großen Verbrechens ist –, als Jude wird man geboren; als Faschist aber wird niemand geboren, dazu wird man, aus Eigeninteresse oder aus Überzeugung. Also ist »auch der kleine Nazi« verantwortlich, jeder, der aus Eigeninteresse, Egoismus, Sadismus, Habgier mit einem Streichholz dazu beigetragen hat, diese Gehenna zu entzünden. Und keiner hat das Recht, naserümpfend zu schweigen, wenn die Frage von Schuld und Sühne jetzt ansteht. Was erwarten wir von der Welt, von den Menschen, wenn wir die Sünde dulden? Kann man sich gegen sie nicht wehren? Auf unvollkommene Weise zwar, aber man kann sich wehren, zumindest ebenso wie gegen Seuchen oder die Elemente. Wir können uns wehren, indem wir die Kinder in den Schulen zur Moral erziehen. Wir können uns wehren, indem wir die schuldigen Erwachsenen vor dem Gesetz und vor Gericht, ohne Sentimentalität, ohne Leidenschaft und ohne barbarische Regungen, objektiv und nach Recht und Gesetz für ihre Taten zur Verantwortung ziehen und auch für ihre Ansichten und Prinzipien, die noch viel gefährlicher als ihre Taten sind … denn der »kleine Pfeilkreuzler«, der persönlich nicht gemordet hat, der würdevolle Generaldirektor, der in den vergangenen Jahren persönlich keiner der reaktionären Geheimgesellschaften beigetreten ist, jedoch mit aller Kraft, mit der Macht seines Amtes und seiner gesellschaftlichen Stellung, diesen »Geist« unterstützte, wird sich nicht im Zeichen christlicher Prinzipien bessern, sondern lässt schon wieder nichts unversucht, seine Macht zurück bekom men oder erhalten zu können, gnadenlos. Und er raubt und mordet weiter, sobald sich dazu die Möglichkeit ergibt, wenn man ihn nicht rechtzeitig in ein Arbeitslager steckt, wo er mit nützlicher Arbeit für seine Sünden büßen kann. Und wer von solch einem Verbrecher weiß und schweigt, ist wahrlich ein Mittäter. Diese Angelegenheit ist sehr schwierig, sehr schmerzhaft. Stimmen wie gestern Abend höre ich immer öfter … Die Verantwortung erfüllt mich voll und ganz, wenn ich daran denke, und ich kann nächtelang kein Auge zutun, weil ich nur daran denken muss. Diese Raubmörder – Hunderttausende – haben uns alle ausgelacht, die wir in den vergangenen Jahren von christlicher Nächstenliebe, Christentum, Humanismus schwatzten, und jetzt, da sich alles erwiesen und erfüllt hat, sollen wir, die Ausgelachten und Erniedrigten, sagen: »Liebe«? … Wir haben kein Recht, dieses Wort auszusprechen. Auch dies ist nur ein Wort wie alle anderen. Es gibt die Liebe, doch der Mensch ist zur Liebe nur manchmal imstande. Der Mensch ist ehrgeizig, habgierig, geil, selbstsüchtig und grausam; ein solches Lebewesen kann ich nicht der disziplinierenden Kraft der Liebe überlassen; ich kann es nur mit Gerechtigkeit und Gesetzen irgendwie im Zaum halten. Und keiner hat das Recht, die Verbrecher aus sentimentaler Feigheit vor dem Gesetz zu retten.
    Doch diese ungarische Gesellschaft ist aufrichtig reaktionär. Und nicht nur der Mittelstand; auch ein Großteil der Bauern und der Arbeiterschaft. Viele Pfeilkreuzler waren Arbeiter, das dürfen wir nicht vergessen. Heute sabotieren auch viele Gemeindesekretäre, viele Richter, Verwaltungsbeamte, Betriebsleiter schon wieder – nicht alle, aber viele – die Mehrheit. Dieser Reaktion kann nur eine Revolution, die langsam reift, weil sie ungeheure Widerstände überwinden

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