Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
ältere Russen ihrer erbarmten, ihnen schließlich die Spaten aus der Hand nahmen und alle nach Hause schickten. Ihre Arbeit war natürlich nutzlos gewesen.
Das erste Mal höre ich davon, dass man Frauen in andere Gemeinden zur Zwangsarbeit schleppt. Das kann nur der Einfall irgendeines der nach Rache dürstenden lokalen Robespierres sein. Die Russen haben nirgendwo so etwas verlangt; der frisch gebackene örtliche Despot dachte wohl in missmutigem Übereifer, den Besatzern auf diese Art gefällig zu sein. In allen Orten taucht diese Gestalt auf, bindet sich eine rote Armbinde um, drückt sich eine Art phrygische Mütze auf den Schädel und ernennt sich zum »Leiter des Versorgungswesens« oder zum »Chef der Ordnungspolizei« – willkürlich, ohne Auftrag und Zustimmung einer höheren Behörde, gibt es doch weder eine Regierung noch eine übergeordnete Behörde! –, und dieser Mensch verfügt auch noch über Personen und Besitz. Solche Gestalten sind natürlich gefährlicher als die offiziellen, die historischen Robespierres.
Kosztolányis Buch über die Säuberung der Sprache ist rührend. Als er vor zehn Jahren seine Streitschrift veröffentlichte, diskutierte ich mit ihm. Heute lese ich voller Hochachtung: Er hat seinen Streit mit mir gewonnen. Und wie aufrichtig sein Engagement, seine Sorgen, seine Absichten sind. Und diesen Schriftsteller nannten sie »dekadent«!
Es stimmt nicht, ein Gedicht ist nicht nur Gnade. Mit der Inspiration kann man umgehen, kann sie durchkneten, ihre Temperatur regulieren, das chemische Rohmaterial eines Gedichts kann man in verschiedene metrische und verstandesmäßige Reagenzgläser füllen und dann beobachten, ob es die Farbe verändert, seine Natur … das Produkt der Inspiration, das Gedicht, kann man verwässern und verdichten. Das Gedicht ist nicht nur eine Gnade, sondern auch Praxis, Bastelei, wenn ihr wollt Kunsthandwerk, sorgsame Aufmerksamkeit und Geschick. Ein Reim blitzt auf, verfälscht er aber etwas in der vorhergehenden Zeile, muss man ihn wegwerfen. Der gedankliche Inhalt einer Zeile ist fehlerlos, doch passt er nicht zum nächsten Reim, man muss ihn wegwerfen. Einen Vers dichtet man nicht nur, man schmiedet ihn auch.
Namenstag. Heute vor einem Jahr saß in unserer Wohnung in der Mikógasse am schön gedeckten Tisch die Familie beisammen. Es gab ein üppiges Abendessen, gute Weine, eine versöhnliche, fröhliche Stimmung herrschte. Alle waren sie da, der Schwager, die Geschwister, eine verwandte Dame, Großgrundbesitzerin vom Lande, die mich zusammen mit L. herzlich zum Schutz »vor den Bomben« in ihr Dorf einlud. Es war ein gemütlicher, familiärer Abend.
In der Nacht besetzten die Deutschen Ungarn. Dann verging ein Jahr. Die verwandte Großgrundbesitzerin vom Lande hütete sich in diesem Jahr natürlich davor, uns, verdächtige Elemente wie L. und ich es sind, auf ihrem Gut zu empfangen … Und die Familie zerfiel in gegnerische, duckmäuserische Fraktionen. Und die Mikógasse ging zugrunde, völlig. Und alles, was damals scheinbar der Rahmen meines Lebens war oder sein Inhalt, seine Aufgabe, alles ging in Scherben. Nichts ist geblieben, nur meine Arbeit, die ich noch unter Dach und Fach bringen will.
In diesem Jahr ging auch das Land mit den vertrauten historischen Lebensformen zugrunde; und sehr viele Städte, menschliche Heimstätten; unschätzbare Werte.
Im Nebenzimmer lernt das Mädchen den berühmten » Mahnruf « von Vörösmarty auswendig. Das Grab, in dem eine Nation versinkt, wird von Völkern stets umstanden … Ich höre diesem monotonen Geplapper zu, diese Lektion hat die Nation immer nur mit den Lippen gelernt, niemals mit dem Herzen und der Seele. Dieses Jahr hat die Wahrheit ans Licht gebracht. Und ich glaube nicht, dass in den Augen der Millionen, der Völker eine Träne der Trauer steht , wenn sie rund ums Grab der Nation verweilen. Mit objektiver Gleichgültigkeit schauen sie diesem Ende zu: Nicht sie haben es beschworen, wir haben es gerufen, wir wollten es, aus Habgier, Unbildung, Sittenlosigkeit. Es gibt keine Entschuldigung.
Mit kühlem Kopf verstehe ich die Aufregung, die mich wegen der Natur und des Verhaltens der Menschen manchmal befällt, nicht wirklich. Was erhoffst du dir von ihnen? Ihr starrköpfiger Egoismus, ihre trotzige Idiotie, die von der Unbildung nicht gezähmt wurde, ja hoffnungslose Lebewesen aus ihnen gemacht hat. Alles, was man unter ihnen tun kann: ausdauernd seine Interessen und Ideale verteidigen und sie
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