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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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muss, ein Ende bereiten. Aber vielleicht ist sie eines Tages so weit, und dann wird sie schrecklich sein, wird sie keinen Unterschied mehr machen, niemand wird Zeit haben, sich höflich vorzustellen; natürlich auch Leute von meinem Schlage nicht. Das muss man im Hinterkopf behalten. Und trotzdem sage ich: Prophylaxe, Erziehung und Zur-Rechenschaft-Ziehen. Sonst hat es keinen Sinn zu leben.
    Frauen halten derlei achselzuckend für eine Art »Männergerede«. Ich bezeichne diese tolerierende, »vergebende«, achselzuckende Weltsicht der Frauen einfach als unmoralisch oder besser als Mangel an Moral. Und ich weiß, wie laut das Geheul sein wird, wenn die Katastrophe, vor der sich rechtzeitig zu schützen sie nicht bereit sind, dann eintritt! Schließen wir die Frauen also aus diesem Aufgabengebiet aus; sie sollen in der Küche bleiben, im Kinderzimmer oder im Büro, im literarischen Salon, auf der Bühne … Doch in den Gerichtssaal, in dem der größte menschliche Prozess unseres Zeitalters verhandelt wird, dürfen wir sie nicht einlassen. Sie halten ihr Gebaren für »moralisch«, im Gegensatz zum »brutalen, harten« Standpunkt der Männer. Und ich weiß wirklich nicht, wovor ich mich mehr fürchten soll: vor der Moral der Frauen oder vor ihrer Unmoral? …
    Als das Kind gestorben war , haben wir seine armselige Habe – Hemdchen, Wickelkissen, Windeln – in einen Koffer gepackt. Jetzt, als ich in den Budaer Ruinen herumgestöbert habe, fanden wir den Koffer. Ein Bajonett steckte darin.
    Dieses Bajonett hatten die ungarischen Polizisten in den Deckel des Koffers gestoßen, als sie meine Wohnung plünderten. Sie waren in Eile, rafften so viel wie möglich zusammen, hatten keine Zeit, sich mit Kleinigkeiten aufzuhalten. Deshalb stachen sie in den Koffer bloß hinein, vergaßen den Flintenspieß dort und wandten sich wertvollerer Beute zu.
    Über die ungarischen Polizisten haben wir in den vergangenen Jahren ja oft gelesen, wie gut sie zu den Kindern sind.
    Wach seit drei Uhr früh. Ich sehe immer deutlicher, wie überflüssig alles ist, was ich gelernt und geschrieben habe, wie überflüssig ich hier bin und sein werde. Mit dem erstbesten Zug weg von hier.
    Die Iden des März. Freiheit. Petőfi … Was für ein Glück, dass er es nicht erlebte! Er würde sich furchtbar gebärden, wie jeder, der zusehen muss, wie sich seine Ideen zur Wirklichkeit wandeln.
    Ich bringe das kleine Mädchen , das jetzt bei uns wohnt, am Nachmittag in die Dorfschule, um sie einzuschreiben. Die Lehrerin empfängt mich in Anwesenheit von vierzig Kindern. Als wir uns verabschieden, ruft die Lehrerin plötzlich laut: »Abteilung, Achtung!« – und vierzig Zöglinge springen von ihren Bänken hoch, stehen steif in Habt-acht-Stellung und schmettern irgendeine Abschiedsparole.
    Dieses »Abteilung, Achtung!«, dieser Kasernenbefehl in der Grundschule: Das war das alte Ungarn. Hier müsste man mit dem Jäten beginnen, mit der Reinigung der Wörter, der Ansichten und Auffassungen – im Klassenzimmer der Grundschule. Was soll ich mir von den Erwachsenen erhoffen, solange sich in Ungarn eine Handvoll Lausbuben als »Abteilung«, also als eine Art Sturmtrupp, fühlt?
    Auszuwandern ist für jeden eine lebensgefährliche Operation. Keiner weiß im Vorhinein, wie viel Blut er verliert, wenn er vom Mutterleib gerissen wird.
    Für mich kann diese Operation auch tödlich sein. Jeder andere verlässt einfach ein Land, wenn er aus seiner Heimat weggeht; aber ich, der Schriftsteller, verlasse eine Muttersprache; sie ist mehr, eine schicksalhaftere »Heimat« als alles andere. Auf Schwedisch kann ich nicht einmal um ein Glas Wasser bitten; auf Französisch kann ich Wasser und auch anderes verlangen, ich kann aber diesen Satz nicht niederschreiben: » Oh, gleite sanft und sing dazu, sterbender Schwan, schöne Erinnerung.« Also kann ich nichts. Ich werde stotternd und taub leben, ich werde vortäuschen, dass ich fühle, grüble, schreibe, spreche. Für den Schriftsteller ist jede fremde Sprache eine Zeichensprache. Dennoch muss ich weg von hier, weil sich in dieser Sprache eine Brut unterhält, die noch viel schlimmer ist als die Zigeuner, es aber wagt, sich selbst als edle Herrschaft zu bezeichnen … Aber lieber stotternd und taub irgendwo dahinsiechen, als mit diesem amoralischen, diebischen, habgierigen, feigen, grausamen Volk zu diskutieren.
    Bevor der Schriftsteller in einem »Realitätsroman« den Punkt erreicht, dass er auch über einen wahreren Inhalt

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