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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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als die Realität, über die Vision, über das Schicksal etwas sagen kann und sich damit aus diesem mörtelartig-lehmigen Bindemittel, das den Roman mit der statischen Notwendigkeit der »Realität« ausfüllt, etwas Schwebendes und Majestätisches entwickelt, ist der höchste Sinn des schriftstellerischen Tuns: das Lyrische – bis dahin aber sind die edelsten Kräfte des Schriftstellers schon erschöpft. Die Beschreibung der Wirklichkeit sollte den Gesellschaftswissenschaftlern, den Reportern oder den Leuten im Grundbuchamt überlassen bleiben. Wenn der Schriftsteller über die Wirklichkeit spricht, muss er sich bemühen, die Wirklichkeit des Lyrischen zum Leben zu erwecken. Und er soll die »Gesetze des Romans« verleugnen, wenn diese ihn dabei behindern.
    Auf der Landstraße steht, vor einem herrschaftlich aussehenden Ferienhaus, ein Mann. Ich habe ihn noch nie gesehen. Er trägt eine Armbinde, barhäuptig steht er in der Märzsonne, raucht.
    In seinem Blick, im Blitzen seiner Augen, rund um sein Bärtchen – es ist kein buschiger Bart – und in seinem Benehmen ist etwas unmissverständlich Bekanntes. Er ist der vornehme, »christlich-ungarische Gentleman«. Ist jener, der selbst nicht der Partei beitrat, jedoch nichts unversucht ließ, in seinem bescheidenen Kreis, in der herrschaftlichen Gesellschaft und in seinem Amt, damit die Ideale der Partei die Oberhand gewannen. Er gehört zu jenen, die auch jetzt noch hoffen, die Deutschen würden zurückkehren, jetzt, da die Russen vor den Toren Berlins stehen und die Engländer sich in den Ruinen Kölns auf einen neuen Sturmangriff vorbereiten. Worauf hofft er? Er weiß es selber nicht. Auf die neue Waffe. Darauf, dass die Amerikaner und die Russen sich letztendlich doch noch zerstreiten. Auf irgendwas … Und was erhofft er sich, wenn die Deutschen zurückkommen? Nur eines: alle hängen zu sehen, die keine »christlich-ungarischen Gentlemen« sind, und er wird wieder der Chef eines jüdischen Betriebs sein, mit monatlich sechstausend, und er kann wieder »christlich-ungarischer Gentleman« sein, laut und rücksichtslos. Ich erkenne ihn schon aus hundert Schritt Entfernung: an seinem Blick, daran, wie sein Bärtchen sitzt, wie seine Augen blitzen. Jetzt schaut er duckmäuserisch vor sich hin und hat für alle Fälle eine Armbinde mit russischen Buchstaben umgelegt. Denn man muss ja vorsichtig sein, heutzutage, ich bitte dich ergebenst!
    Ich unterhalte mich mit dem jungen »christlich-ungarischen« Rechtsanwalt einer großen Bank. Er erzählt, die Pfeilkreuzler hätten in den letzten Wochen aus den »christlichen Safes« die Aktien und Wertgegenstände mitgenommen. Ich erwähne, dass Sztójay und sein Gefolge schon Monate vorher das Gleiche mit dem Besitz der Juden gemacht hätten. »Das ist etwas anderes«, sagt er, »das war lediglich das Vermögen der jüdischen Minderheit.«
    Dieser Mensch blickt gelassen in die Zukunft, weil er auch eine »jüdische Klientel« hatte und einmal »mit Erfolg einen Kommunisten verteidigte«.
    In Tahi. Eine ungarndeutsche Wirtin bekommt in meiner Gegenwart einen Herzanfall und bricht in Tränen aus, weil in der Nacht zuvor die einquartierten russischen Soldaten zwei Kilo von ihrem Küchenschmalz mitgehen ließen. Sie ist nur schwer zu beruhigen. Ich tröste sie, dass auch andere viel verloren hätten, zum Beispiel wurde mein ganzer Besitz zerstört; dem schenkt sie keine Beachtung. Sie jammert, und ihr Gesicht ist tränennass.
    Menschen wie ihr tut dies am meisten weh: der Verlust von »Sachen«, das Schmalz und die Kuh, Kleider, Stoff, Möbel … Das schmerzt sie so sehr, sie gehen daran zugrunde. Doch immer noch warten sie lieber auf die russischen Requirierungen, als den Ungarn für Geld etwas zu verkaufen. Jetzt tauschen sie gegen gestohlene Sachen der Budapester Ballen von Leinwand, meterweise Kleiderstoff – sie horten die »Beute« mit ruhigem Gewissen.
    Eine junge Dame aus dem Nachbardorf erzählt ganz aufgelöst, dass sie vor zwei Tagen, um halb eins in der Nacht, von der Bürgerwehr aus dem Bett gerüttelt und auf Befehl des hiesigen Häuptlings mitten in der Nacht zehn Kilometer nach Visegrád getrieben wurde, um am Berghang Schanzen zu graben. Die jungen Mädchen der in der Gegend ansässigen Familien, unter ihnen auch ein jüdisches Mädchen, das jetzt nach langer Zeit des Vegetierens in Verstecken endlich nach Hause gekommen war, stocherten zwei Tage lang mit dem Spaten in der Hand in den Hügeln herum, bis sich

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