Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Nase.
Die Nation hat jetzt die Hemdsärmel hochgekrempelt und sich darangemacht, etwas Großes zu tun: die Vergangenheit zu tilgen, Reaktion und Korruption auszurotten, die gesellschaftlichen Privilegien abzuschaffen und jedes herrschaftliche Gut, das größer ist als hundert Joch, aufzuteilen. Die Augen leuchten wie seinerzeit die weißen Pluderhosen in den Volksstücken auf der Bühne. Frohes Schaffen, meine Brüder! Nur eine Frage so zwischendurch und nebenbei: Hat die Nation moralische Ansprüche? Ich meine, fühlt sie irgendetwas von der »kollektiven Verantwortung«, will sie denn anderes, als sich mit dem Vermögen, das der eben entschwindende Stand verdient oder requiriert hat, die Taschen zu stopfen, sich durch entsprechende Weltanschauung zu einer guten Position berechtigt zu fühlen, als mit stolzgeschwellter Brust vorzugeben, ein Linker zu sein und deshalb Wolle ansetzen zu dürfen? Stellt die Nation denn moralische Ansprüche an sich selbst, will sie wirkliches Recht, bedingungslose Freiheit, erträgt sie denn moralische Kritik, gibt sie sich die Möglichkeit zur Katharsis, oder will sie nur schwatzen und sich bereichern? Erfahrungen, die ich vor nicht allzu langer Zeit gemacht habe, zwingen mich dazu – unter vier Augen –, dies anzusprechen. Und wenn ich »Nation« sage, denke ich nicht an eine Gesellschaftsschicht, sondern an jede Schicht der Gesellschaft. Und ich habe Grund dazu.
Auferstehung. Ein Theatermann aus Budapest schließt sich der Dorfprozession an und spricht davon, dass Direktor X. ein Stück für sein Theater haben möchte. Bis die Schellen erklingen und das Allerheiligste hochgehalten wird, diskutieren wir über Tschechow, und ich denke daran, dass sich wirklich nichts geändert hat, die Menschen werden auch durch schreckliche Erlebnisse nicht anders; allenfalls die Lebensumstände verändern sich ein wenig, die menschliche Natur indessen nie. Das ist ein Gemeinplatz, und trotzdem: Alle Generationen und jeder einzelne Mensch müssen sich zwangsläufig selbst von der hoffnungslosen Richtigkeit dieses Gemeinplatzes überzeugen.
Die Menschen haben die Belagerung überstanden, haben den einen oder anderen Körperteil verloren, Familienmitglieder, Arbeitsplätze, Vermögen und wollen jetzt genau dort weitermachen, wo sie aufgehört haben. Und weil da sehr viele sind, die es so wollen, werden sie wahrscheinlich auch dort und auf die gleiche Weise weitermachen, wo und wie sie aufgehört haben. Es wird wieder Theaterzeitungen geben mit Klatsch, pikanten Details aus dem Privatleben von Künstlerinnen, mit dem Titelblattgrinsen männlicher Stars – während der Osterprozession hat der Theatermensch ausführlich Neuigkeiten über einen Scheidungsprozess im Theatermilieu, der wirklich verblüffend ist, von sich gegeben. Und das vier Wochen nach Ende der Belagerung.
Die Deutschen werden überall geschlagen, der Krieg kann noch einige Monate dauern, er kann aber auch von einem Tag auf den anderen vorbei sein. Und was geschieht dann mit den Deutschen?
Denn alle verstehen schon, dass hier nicht nur von den Raubmördern, die man unter dem Überbegriff »Nazi« kennt, die Rede ist, sondern von den Deutschen insgesamt. Von jenen Deutschen, die der Welt Bach, Goethe, Schopenhauer, Dürer beschert haben, aber in der Person eines Bismarck, Kaiser Wilhelm oder Hitler alle fünfundzwanzig Jahre verlautbaren, dass man wegen diesem und jenem mit der restlichen Welt nicht in Frieden leben kann und einen Krieg anfangen muss. Die Welt erträgt nicht alle fünfundzwanzig Jahre einen Weltkrieg – dafür ist das britische Reich nicht stabil genug, Amerika nicht reich und Russland nicht volkreich genug. Diese sture, eingefleischte Angewohnheit muss den Deutschen ausgetrieben werden, so viel ist sicher – aber wie, auf welche Weise? Durch Ausrottung? Versuchen wird man auch das; jetzt werden viele Deutsche umgebracht, mehr noch werden später verhungern, sehr viele deportiert. Aber der größte Teil der Deutschen wird weiterhin in Europa bleiben, dieses Ameisenvolk schnitzt und schmiedet sodann fünfzig Jahre lang in Vereinen an einer Waffe, und alles beginnt von vorn … (»Die Deutschen sind die Strafe für unsere Sünden!«, sagte C. , der Botschafter .) Vielleicht durch Erziehung? Einen Charakter kann man nicht erziehen, und der Charakterfehler der Deutschen ist, dass sie den Krieg lieben, das Soldatspielen, den Tod. Ich habe keine Ahnung, was man mit den Deutschen machen kann, jetzt, da man sie geschlagen
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