Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
hat. Dass ich keine Ahnung habe, ist das kleinere Problem; dass auch die Welt keine hat, ein sehr viel größeres.
Gobineaus Buch über die mittelasiatischen Religionen und Philosophien besorgen und lesen; etwas über die Geschichte des Untergangs der Bab-Sekte erfahren. Diese Sekte wurde 1852 in Teheran ausgerottet; ihr Fanatismus suchte seinesgleichen. Ein wichtiger Beitrag zu den Beleidigten .
R. und L. denken, wenn ich mich für ein halbes Jahr zurückzöge, wäre die erste Wut meiner Gegner in Weltanschauungs- und politischen Fragen verklungen, dann könnte ich wieder schreiben und »auftreten« … Doch mich interessiert diese Möglichkeit »aufzutreten« nicht. Ich habe keine Lust und keinen Grund, mich durch eine Hintertür, die man höflich und großmütig geöffnet hat, in die »literarische Welt« zurückzustehlen, aus der man mich, ich weiß nicht wer und mit welchem Recht, eventuell verbannt hat – und noch weniger kann ich mir vorstellen, wer und mit welchem Recht sich anmaßt, mir zu erlauben, dass ich mich zurückstehle. Die Wahrheit ist eine andere. Die Wahrheit ist, dass ich die ungarische Gesellschaft kennengelernt, für ungebildet befunden habe und nicht bereit bin, in dieser Gesellschaft die »Rolle« des Schriftstellers und Erziehers zu übernehmen, ob sie es mir nun »erlaubt« oder nicht. Ich werde für meine Schublade schreiben, für den Rest meines Lebens, und mich bemühen, mein Auskommen zu finden und so angenehm wie möglich zu leben – vom Weinhandel, oder ich suche mir einen jüdischen Schriftsteller, unter dessen Namen ich Detektivromane und Ideen für Filmdrehbücher verkaufe. Alles andere ist Privatsache.
Renan konnte noch schreiben, dass er zuerst Mensch und ein Kind Gottes sei und erst danach Franzose oder Deutscher. Für diese Aussage würde man ihn heute erschlagen.
Ostern. Zwischen Weihnachten und Ostern entscheidet sich der Krieg, auch für uns. Die Front zieht von hier ab, jeden Tag ist sie weiter weg … Zurück bleiben die Landschaft, die Ruinen und die Menschen, die sich nicht geändert haben.
Der Verstand, das kühle und unparteiische Wissen, ist mehr wert als blinder Fanatismus; doch der Fanatismus verändert mehr in der Welt als der kristallklare, kühle Verstand.
Das Leben beginnt jeden Morgen mit Wasser und Feuer: Ich hole Holz und ziehe Wasser aus dem Brunnen. Die beiden Urelemente sind die Triebkräfte jeden Lebens. Das Essen kommt erst danach. Und wenn Feuer, Wasser, Brot vorhanden sind, erst dann folgt dieses Plus, das dem menschlichen Leben Sinn gibt: die Literatur oder die Biochemie … Die meisten aber geben sich damit zufrieden, dass sie mit irgendeiner langweiligen, unpersönlichen Arbeit »verdienen«, was aus der Wirkung der Urelemente folgt: die Wärme, das Essen und das Trinken.
Welch phantastische Welt! Ich habe im Garten keinen Finger gerührt, dennoch füllte er sich mit wunderbaren Sträuchern, Lauben, von denen es gelb wie von Goldmünzen glitzert, Veilchen, Goldlack und Levkojen. Und um all das hat niemand gebeten, all das wollte niemand, und es hat auch niemand dabei geholfen. Die Natur ist »Selbstversorger«.
Ein hervorragender Stoff für ein Stück in der Hand eines Theatertausendsassas: unter dem Titel »Luftschutzbunker« eine Belagerung beschreiben, während der, in einer zerstörten, ausgeweideten Stadt, im Keller eines Mietshauses, die »gebildeten« Menschen beim ersten Granateneinschlag jede Form von Bildung vergessen und zu Bestien werden, schlimmer als Tiere, nichts lernen, nichts vergessen, und als der erste feindliche Soldat in den Keller eindringt und sie vom Albtraum der Belagerung »befreit werden«, beginnen sie die verlogene Komödie der »Kultur« wieder von vorn.
Ein Jahr schon dauert für mich diese stille Dorfforschung. Gewiss kenne ich die ganze, unbedingte Wahrheit noch nicht: Eine Gesellschaftsschicht, die so verschlossen wie der ungarische Bauernstand ist, kann man in einem Jahr nicht »kennenlernen«. Doch das eine und andere dämmert mir.
Nicht zufällig wird dieser Teil des Volkes, der ungarische Bauernstand, als Letzter in Europa »befreit«. Das ist nicht nur die Schuld der Herren; auch die Schuld der Bauern. Jedes andere Volk hat seine Bauernprobleme schon lange gelöst; mit einer Revolution oder durch gesellschaftliche Entwicklung. Der Ungar erwartet auch diesmal, dass ein anderer für ihn diese kleine Revolution, die Bodenreform, erledigt. Und dazu wählt er den schlechtesten Augenblick: das Ende eines
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