Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
begüterte Aristokratie zu Erziehung und Führung berechtigt sei. Davon wurde alles bestimmt; und auch die ungarische Gesellschaft, wie sie den Willen dieses klugen Oligarchen akzeptierte und ihm diente … Ungarn würde heutzutage wohl nicht Schweden, könnte aber zumindest die Tschechoslowakei sein … und wie ist die Wirklichkeit? Ein ausgeblutetes Land, das von einem Extrem ins andere wankt, und die Freiheit, das innere Verlangen danach, sind genau so irreal, wie sie es vor fünfundzwanzig Jahren waren.
Ohne Freiheit aber ist das Dasein nicht lebenswert. Man kann leben, aber es lohnt sich nicht; und das Individuum oder die Nation, die diese Möglichkeit, ein Leben ohne Freiheit, wählt, muss bald erfahren, dass die auch in der Praxis den Tod bedeutet – nicht nur den Tod der Ideale und Moral, sondern auch den wirklichen, den physischen Tod. Ich glaube immer weniger, dass die Ungarn als Nation diese Katastrophe, die von Feigheit und Unbildung heraufbeschworen wurde, überleben.
Simon von Gitton, in Renans Vortrag: der Gnostiker, der Nachahmer, der Christus die Idee des Christentums stiehlt, wird ein gefährlicher Konkurrent, und sein Versuch gelingt auch fast: eine beeindruckende Figur! Jedes große historische Unterfangen verfügt über so einen Simon, der irgendwann nachzuahmen beginnt und größeren Erfolg als der Meister hat, ja größeren als DER Meister. Dieser Erfolg ist natürlich zufällig und vergänglich. Und an solchen Nachahmern erweist sich erst, was am ORIGINAL wahr und falsch war, zufällig und unübertrefflich.
In Buda. In der Mókusgasse, vor dem Gasthaus Kéhli – Krúdys Revier –, erste Lebenszeichen: Ein Postbote trägt Briefe aus. In den Hauseingängen werden Zwirn, Kerzen, Würste, Schmalz, Pogatschen verkauft. Ein Begräbnis; zwei Männer tragen den Sarg auf einem Brett, hinter ihnen die Trauernden wie in der venezianischen Anekdote: Der Gondel des drittklassigen Toten folgt die arme trauernde Verwandtschaft – schwimmend. Von der Ersatzbrücke, die hinter der Margaretenbrücke errichtet wurde, verscheuchen mich die Russen; inmitten von Staubwolken, Gestank und Müll wandern wir zur Franz-Josephs-Pontonbrücke, über die man von acht Uhr früh bis vier Uhr nachmittags nach Pest hinüberkommt. Buda erscheint hoffnungslos; die Ruinen, die Häuserwracks – oben hängt auf einem Haus, mitten im »romantischen Tabán «, ein abgestürztes Flugzeug –, der Gestank von Tierkadavern, Leichengeruch von den nachlässig verscharrten Toten in der warmen Frühlingssonne; sich dahinschleppende Menschenmassen mit Koffern, Bündeln, Menschen mit vollgepackten Leiterwagen; Häuserzeilen, die jetzt noch verwüsteter sind, noch ausgeweideter erscheinen als im Hochgefühl der ersten Begegnung; die gespenstischen Skelette der ausgebrannten Burg, der Kettenbrücke, der Elisabethbrücke: Das alles ist hoffnungslos. Doch in der Zárdastraße , in einem intakten Haus, finde ich die kleine Eigentumswohnung, die ich vor fünf Jahren vom Honorar für das Theaterstück Abenteuer erstanden und eingerichtet habe. Sie ist nicht beschädigt; in den Fenstern ist Glas; im Haus gibt es Strom und Wasser, weil hier der russische Kommandant des Rosenhügels gewohnt hat; und endlich schlafe ich unterm »eigenen Dach«, esse bei elektrischem Licht zu Abend und wasche mich mit fließendem Wasser in der Badewanne … was für ein Erlebnis! Die Mieter versprechen, mir in ein paar Wochen die kleine Wohnung zu übergeben, weil sie ins Ausland übersiedeln. Ich suche meine Mutter , sie haust im fünften Stock einer Pension in der Pester Innenstadt, in einem Loch, das wohl ein Dienstbotenzimmerchen war, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Lebensmittel. Ich möchte sie so bald wie möglich in die Zárdastraße bringen.
Diese Wohnung in der Zárdastraße ist in ihrer Unversehrtheit verblüffend: Weil auch alles genauso gekommen ist, wie ich es mir vorgestellt hatte; so linkisch-logisch … Ich habe sie gekauft, weil ich mir irgendwo ein Zimmer bereithalten wollte, falls mit meinem Zuhause in der Mikógasse etwas passieren oder es zur gesellschaftlichen Unmöglichkeit würde, in einer Fünfzimmerwohnung zu residieren. Beide Möglichkeiten sind genauso eingetreten. Und ich kaufte sie auch, um etwas verkaufen zu können, falls ich einmal nichts verdienen würde; dieser Fall ist ebenfalls nicht mehr weit. Es war ein Einfall von kurzsichtiger Klugheit; wie man in Budapest sagt: Kraus-bácsi im Café New York hat immer recht …
Nach dem
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