Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Budaer Rundblick ist Pest eine fast völlig intakte Stadt. Sie prickelt vor Leben: In Geschäften mit verglasten Schaufenstern ist »alles zu bekommen«, auch Artikel, die wir schon seit Jahren nicht mehr gesehen haben: Schweineschmalz, Mehl, Ferkel, Rind- und Kalbfleisch, Geflügel, Gemüse, Kartoffeln, Speiseöl, Chanel-Parfüm, Schuhcreme, Schokolade, echter Tee und Kaffee, Würfel- und Kristallzucker, Marmelade, Kleiderstoffe, Strümpfe, Schuhe … eben alles, was eine große Stadt im Frieden zum Kauf anbieten kann; und dieses Angebot ist innerhalb von Tagen aus dem Boden gewachsen. Die Juden arbeiten mit leidenschaftlicher Energie, schaffen die Waren heran, haben Budapest vor dem Hungertod gerettet. Die Preise sind völlig verrückt: Zehn Gramm Hefe kosten acht Pengő, ein Kilo Zucker vierhundert, Schmalz vierhundert, Mehl sechzig. Nebeneinander haben wir Inflation und Geldmangel. Wahrscheinlich kaufen Leute ein, die sich in jüngster Vergangenheit viele Dinge angeeignet haben; und die Hungrigen, die ihren letzten verbliebenen Besitz verkaufen, damit sie etwas zu beißen bekommen. Ich esse in einem Kaffeehaus zu Mittag: einen Teller Pilzsuppe, Erbsenpüree, eine Scheibe Hackbraten, eine Scheibe Brot für hundert Pengő. Zigaretten, das Stück zwei fünfzig und so viele man will. Es gäbe auch schon Strom, wenn man es zuließe; alles würde es geben, wenn man es zuließe. Auf der Vácistraße , inmitten der Ruinen, Shopping-Stimmung. In vornehmen Geschäften rät mir der Verkäufer von der Csabaer Wurst ab, weil er morgen – für dreihundertsechzig – Debreziner bekommt. An jeder Straßenecke ein Wiedersehen; wie Maschinen rattern die Menschen ihre Erlebnisse herunter. Allen ist »das Gleiche« passiert: In der Nacht seien die Pfeilkreuzler ins Haus gekommen, hätten die Marmelade aufgegessen und die Großmutter umgebracht. Die meisten aber haben die Belagerung erhobenen Hauptes überstanden; keiner hat sich verändert; alle sind sie genau so ungebildet, korrupt oder zynisch, wie sie es immer waren.
Eine Dame auf der Vácistraße meint: » Das alles verhält sich wie Mária Lohr, vormals Kronfusz .« Sie meint, nichts habe sich geändert, auch nicht nach den Nazis und den Pfeilkreuzlern.
Der Handel ist »frei«: Jeder verkauft, was und wo er will, ohne Gewerbeschein, wie es ihm beliebt. Die Freiheit ist in jedem anderen Sinne jedoch nur ein Trugbild. Die individuelle Freiheit ist eben etwas anderes, als Kakaopulver in der Királystraße kaufen und verkaufen zu dürfen. Es braucht Zeit, bis man das versteht; wenn sie es überhaupt irgendwann verstehen werden …
Immer mehr Zeitungen erscheinen, und jede führt dieses Wort im Namen: Freiheit. Tatsächlich steht es jedem frei, zu schreiben, in die Welt hinauszuschreien, was gestern noch verboten war; nur über den heutigen und morgigen Tag darf man die Wahrheit nicht schreiben.
Renan meint, die Judenverfolgungen wären im alten Rom nicht so grausam gewesen, wie die Nachwelt glaubt. Für die Juden war damals wie heute eine gewisse Eigenbrötelei typisch; sie waren überheblich, rachsüchtig, aßen anders, hatten andere Lebensgewohnheiten, durch den Glauben, den Geschmack und die Bildung unterschieden sich die Juden vom Volk, das sie aufgenommen hat. Sie waren stets arm – erst in Spanien gab es zur Zeit der Goten die ersten großen jüdischen Vermögen –, und sie standen immer in Verbindung mit der Gesellschaft der Armen.
Dieser ausgezeichnete Schriftsteller und Dichter meldet sich immer wieder fleißig hier in der neuen Welt zu Wort; und wenn ich seinen Namen im Titel von Zeitungen lese, auf den Namenslisten von Komitees und Vereinen, verstehe ich, was mich heute wie früher von ihm unterscheidet. Dieser Schriftsteller ist in erster Linie Politiker; auch wenn er ein Gedicht über den Frühling schreibt; für ihn ist also die gesellschaftliche Frage wichtiger als ein Verlaine-Gedicht oder Krieg und Frieden . Auch für mich ist der gesellschaftliche Aufstieg der ungarischen Kleinhäusler und Tagelöhner eine ehrenvolle und wichtige Angelegenheit, aber nicht wichtiger als die Gedichte von Babits oder Shakespeare; wenn ich mich entscheiden muss, bekommt die Literatur, nicht die Politik meine ganze Kraft und Aufmerksamkeit. Deshalb können wir einander nicht verstehen. Trotz alledem können wir unsere Ansichten gegenseitig respektieren.
R. warnt mich , ich solle eine Zeit lang nicht unter Menschen gehen, keine »Funktionen übernehmen«, weil meine »Gegner«
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