Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
pensionierte Schriftsteller, ein Ort mit Ausblick auf Gül Babas Grabmal , auf die Donau und die zu Ruinen zerfallenen, an Grüfte erinnernden Stadtviertel einer verluderten und nutzlosen Gesellschaft.
Ich habe keine Möglichkeit, Gedichte zu lesen, und das fehlt mir sehr. Deshalb muss ich gezwungenermaßen Gedichte schreiben.
Vielleicht ende ich, wenn ich alt bin, wieder dort, wo ich begonnen habe: als Lyriker.
L. knetet Brotteig, das erste Mal in ihrem Leben, und sie und auch ich wundern uns: Wie vertraut diese Bewegung ist, dieses Teigkneten, wie sehr es doch schon in den weiblichen Händen schlummert, man muss es nicht erst lernen! Es ist uraltes Handwerk, dem Menschen angeboren, und es gibt keine Zivilisation und keine hoch entwickelte Backindustrie, die einen das vergessen machen kann!
Das »Große Jahrhundert« hat viel ertragen: nicht nur die männlichen Bestien und weiblichen Raubtiere der Fronde , auch Hermaphroditen in der Art der Christine !
Der Papst und Ludwig XIV. fanden sich klaglos mit der Willkür dieser Hysterikerin, dieser unglücklichen, geschlechtlich Maroden ab, ertrugen ihre groben und gefährlichen Schrullen, bezahlten den Preis für ihre teuren und sonderbaren Abenteuer, Mazarin schickte ihr manchmal, nach einem ihrer außergewöhnlichen Skandale, zweihunderttausend Goldstücke nach, und nur La Rochefoucauld brummelte angesichts der schwedischen Königin in einer seiner Maximen seine Meinung über diese entstellte Erscheinung … Doch das Jahrhundert hat alles ertragen, verziehen, entschuldigt und verstanden; die bedingungslose WILLKÜR war dem Individuum gegenüber geduldiger als heute die Bezirkspolizei in einem demokratischen Land.
»Die Seele hat kein Geschlecht«, meinte die kranke Königin. Eine schöne Feststellung, doch sie stimmt nicht. Ich habe viele Menschen gekannt, die nicht die bestimmten und schicksalhaften Charakteristika eines Geschlechts trugen, doch ihre Seele war absolut männlich oder weiblich.
Bestimmte Personen beschwört man durch den konsequenten Rhythmus bestimmter Ereignisse herbei. Das erlebe ich immer wieder, im Kleinen und im Großen, im Ernsten und im Lächerlichen. Zum Beispiel: Waschtag im Haus, da ist es ausgeschlossen, dass X. nicht zu Besuch kommt, der überhaupt nichts mit dem Waschtag zu tun hat. Und wenn sich Y. bei uns einstellt, kommt noch ein weiterer unerwarteter Gast. All das geschieht willkürlich, dennoch ist es absolut konsequent. Im Weltrhythmus erfolgt alles zu seiner Zeit, alles berührt sich, streckt die Hand dem Tänzer des nächsten Schrittes hin.
Massenunglücke sind langweilig. Jedem ist »dasselbe« passiert – und »dasselbe« war fürchterlich, nicht wiedergutzumachen, gleichzeitig auch monoton. Nur das individuelle Schicksal ist aufregend, überraschend und unberechenbar. Das Schicksal, das innerhalb einer Masse das Individuum heimsucht, ist fatal, regt jedoch zugleich zum Gähnen an.
Ich lese die Geschichten aus 1001 Nacht in der schönen Ausgabe des Insel Verlags, in spürbar getreuer Übersetzung. Hofmannsthals Vorwort macht darauf aufmerksam, dass diese »Geschichte« – in deren Text Generationen ungenannt ihre Träume hineingeschrieben haben wie in die Veda – die Märchen noch mit Urworten erzählt; die Worte haben hier noch ihren vollen Wert und ihre Glaubwürdigkeit. Wie bei Homer, wie in der Kalevala wurde auch der östliche Märchenteppich aus Fäden gewoben, deren Material und Ursprung in den tiefsten Schlunden des Bewusstseins aufbewahrt waren.
Diese Worte überraschen immer. Wie jede große und wirkliche Dichtung spinnt und flicht auch dieses östliche Märchenepos den Zauber, das Feenhafte, das Wunderbare aus den Elementen der Wirklichkeit – und die unbekannten Dichter fürchten sich nicht vor der Wirklichkeit, sie nennen sie beim Namen, mit Haut und Haaren, zeigen das Missgestaltete und Phantastische in seiner Unansehnlichkeit, die Warze auf einem schönen Körper, den aus einer Ambrawolke aufsteigenden Küchenmief.
Die mörderische Wut des gehörnten morgenländischen Königs ist wohl nichts anderes als geschlechtliche Unsicherheit. Ein Mann, der die Beschaffenheit und Grenzen seiner Potenz kennt, könnte niemals so mörderisch eifersüchtig sein – er ärgert sich höchstens.
Pädagogik. Das kleine Mädchen erzählt, dass die Dorflehrerin in der Schule einen kleinen Jungen, der die Aufgabe nicht gelernt hat, vor die Klasse hinstellte, und auf ihren Befehl musste das Kind dann laut sagen: »Ich bin
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