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besagte eine Theorie, benutzten Autofahrer ihre Hupen, als wollten sie olé! rufen, so wie in »Olé! Du hast die Spur ge-wechselt!«, »Olé! Du hast mich geschnitten!«, »Olé!
Du fährst auf dem Gehsteig!« In San Francisco dagegen bedeutete eine plärrende Hupe: »Ich wünschte, du wärst tot. Schönen Tag noch, du Penner.«
Und die Körpersprache war drüben im Westen völlig vermurkst. Art war davon überzeugt, dass 66
die gesamten unterbewussten Affekte eines Menschen von seiner Erziehung bestimmt werden.
Wie man dasteht, ein ruhiges Gesicht macht und gestikuliert, lernt man von den Erwachsenen, in deren Gemeinschaft man aufwächst. Der Stamm der Pazifischen Zeitzone war ihm stets ein bisschen einfältig vorgekommen, genau wie die einzelnen Mitglieder. Offenbar waren deren Gesichts-muskeln über lange Zeit hinweg so konditioniert worden, dass ihre Mienen derart schwabbelig, na-iv und weggetreten wirkten, als hätte bei ihnen bereits die Vergreisung eingesetzt.
Selbstverständlich ist auch die Ästhetik der Konditionierung unterworfen. Die örtliche Definition dessen, was als attraktiv oder hässlich gilt, wird von den Menschen vorgenommen, die einen während der Pubertät umgeben. Die Bewohner der Pazifikküste hatten einen gewissen »Look«, der Art auf schlecht zu fassende Weise abstieß. Es war schwer zu sagen, woran es lag, aber wenn er in ei-ne Bar ging oder in einem überfüllten Zug steckte, fand er die Mädchen einfach nicht besonders attraktiv. Objektiv konnte er feststellen, dass sie durchaus hübsch waren, aber es berührte ihn nicht so wie bei den Mädchen, die den Antiqui-tätenmarkt in Chelsea frequentierten oder am Harvard Square faulenzten.
In Kalifornien hatte er sich stets ein wenig jenseits der Realität gefühlt, was durch seine unab-67
lässigen Bemühungen für den Stamm noch verstärkt wurde. Sein Stammesleben begann mit dem Chatten und Spielen bis zum Sonnenaufgang. Danach bewegte er seinen koffeinbedürftigen Arsch in einer Art Nebel von einem Kunden zum nächsten, kehrte später nach Hause zurück, machte ein Nickerchen und ging um drei oder vier Uhr nachmittags – wenn die agilen Frühaufsteher in New York City und der Östlichen Zeitzone bereits Feier-abend hatten und auf ihren Komsets herumplap-perten – wieder ins Netz.
Nach und nach arbeitete er sich im Stamm weiter vor und erhielt Einladungen auf Privatkanäle mit strenger Vertraulichkeitsstufe, wo er sich dabei ertappte, intimste Einzelheiten seines Lebens zu enthüllen. Die Stammesangehörigen hielten zusammen, besorgten sich gegenseitig Arbeit und gaben einander Ratschläge. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand ihm eine Tätigkeit anbieten würde.
Der Betreffende war Fede, der den Job des für Stammesinteressen tätigen Agent provocateur praktisch erfunden hatte. Bei seiner Arbeit für McKinsey hatte er die in der MGZ-Zone ansässigen Kunden mit ebenso plausiblen wie verhängnisvollen Empfehlungen systematisch untermi-niert und so eine Achillesferse geschaffen, die amerikanische Konkurrenten an der Ostküste ausnutzen konnten. Virgin/Deutsche Telekom hat-68
te die gesamte europäische Trust-Struktur für Relay-Netzwerke an einen zusammengewürfelten Haufen von Flüchtlingen aus AT&T-Labors abge-treten. Deren Zentrale in New Jersey fungierte als Host für alle Handy-Reputationsdaten, die Europas Komsets zu Rate zogen, wenn sie ihre Anrufe routeten. Die Klienten in Jersey hatten einen hübschen Batzen der Einkünfte auf Fedes Konto ge-schleust, getarnt als Gewinne aus einem schwim-menden Kasino, das der Stamm zur Geldwäsche benutzte.
Doch jetzt schlug V/DT zurück und wollte einen Vertrag mit der Regierung von Massachusetts an Land ziehen, der satten Profit versprach: die Verwaltung von Zahlungen an die Inhaber von Ur-heberrechten, deren mediale Produkte an den Mautstationen der I-90 von New York nach Boston abgerufen wurden. Verwertungsgesellschaften bieten eine fabelhafte Gelegenheit, massenweise Geld zu scheffeln, zu waschen und zu schleudern, und Virgins riesige Angebotspalette und Telekoms teutonische Akribie stellten eine Kombination dar, die von der Konkurrenz kaum zu übertreffen war.
Unnötig zu erwähnen, dass die mit der Route 128
befassten Stammesangehörigen, derzeitige Vertragspartner der Regierung, dringend etwas brauchten, das ihnen einen Vorteil gegenüber V/DT verschaffte. Und sie waren bereit, anständig dafür zu bezahlen.
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Art empfand die Londoner Nächte gegenüber den
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