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meisten Fällen sind sie kaum von irgendeiner Subkultur zu unterscheiden. Erst die Organisation auf Basis von Zeitzonen hat einen weltumspannenden Zusammenhalt einzelner
Stämme vorangetrieben, der die Subkulturen der Strickfreunde oder Vampir-Fans weit in den Schatten stellt. Diese neuen Stämme verfolgen sowohl kommerzielle und gewerbliche als auch kulturelle 157
und kulinarische Interessen. Ein Stammesangehöriger speist vorzugsweise im Restaurant eines Stammesgenossen, beschäftigt in seinem Unternehmen vorzugsweise Stammesgenossen, be-
nutzt vorzugsweise die Taxis seiner Stammesgenossen. Nicht aufgrund von Fremdenfeindlichkeit, sondern aufgrund seiner Liebe zum Vertrauten, zu seinem Stamm. Ich weiß, dass mein Stammesbruder sein Taxi auf eine Weise durch den Verkehr lenkt, die mir genehm ist, ob ich nun in San Francisco, Boston, London oder Kalkutta bin. Ich weiß, dass das Essen in einem Stammesrestaurant schmeckt; dass das Buch, das ein Stammesgenosse geschrieben hat, sich zu lesen lohnt; dass Produkte, die ich bei einem Stammesunternehmen bestelle, genau nach den Standards meines Stammes gefertigt werden. Aber wie ich schon sagte: Wenn man nicht vor Ort, nicht in der Zeitzone wohnt, in welcher der eigene Stamm angesiedelt ist, kommt der Schlafrhythmus ganz schön durcheinander. Man lebt so lange mit ständigem Schlafmangel, Chats und geheimen Aktivitäten, dass man bald nichts anderes mehr kennt. Doch mit der Zeit wird man ziemlich wunderlich und verhält sich zunehmend irrational. Ein Beispiel: Während man auf der Schnellstraße fährt, schließt man kurz die Augen. Schon projizieren sich Traumbilder auf das Innere der Augenlider und nehmen einen völlig in Anspruch. Das Schlaf-158
bedürfnis setzt sich fast so heftig und gnadenlos durch wie die Gravitationskraft. Bei den Stämmen gibt’s häufig Zoff, gegenseitiges Angiften, Abspal-tungen. Oft sind sie genauso zersplittert wie ein-geschlagene Windschutzscheiben. Stammesanthropologen haben die unglaublichen Geschichten der Aufspaltungen festgehalten, die sich seit dem ersten Auftauchen der Stämme vollzogen haben.
Die meisten davon kann man im Netz abrufen und einsehen. Wir fallen einander immer wieder in den Rücken, und das allein wegen der Halluzinationen, die der ständige Schlafmangel bei uns auslöst. Und deswegen bin ich hier gelandet. Ich gehöre zum Stamm der Östlichen Zeitzone. Wir sind hauptsächlich rund um New York aktiv, haben aber auch Zweige an der Küste, in Boston, Toronto und Philadelphia. Darüber hinaus zählen viele Englischsprachige in Montreal zu uns und ein paar Möchtegerns im Norden des Bundesstaa-tes New York, rund um Buffalo und Schenectady.
Ich war für den Stamm in London tätig, habe dort Stammesziele verfolgt und dabei mit Stammesgenossen zusammengearbeitet. Na ja, eigentlich nur mit einem einzigen Stammesbruder und mit meiner Freundin, von der ich annahm, sie sei an keinen Stamm gebunden. Es stellte sich aber heraus, dass beide Doppelagenten sind. Sie haben sich an den Stamm der Pazifischen Zeitzone verkauft, an lahmarschige Angeber drüben in Los Angeles, aal-159
glatte Business-Development-Typen in Silicon Valley, Pseudo-Hipster in San Fran-Schiss-Ko. Als ich drohte, sie auffliegen zu lassen, haben sie mich reingelegt und mit einer Zwangseinweisung in diese Klinik abgeschoben.«
Ich sah in die Runde, stolz darauf, dass ich gerade einen wirklich lustigen kleinen Exkurs über ein Thema beendet hatte, das mir lieb und teuer war. Konsterniert und verständnislos erwiderte der Arzt meinen Blick. Sein Gesicht wirkte genauso versteinert wie die in Fels gehauenen Köpfe der Nationalheiligen von Mount Rushmore.
»Junge, Junge!« Lucy verdrehte erneut die Augen. »Du brauchst dringend eine weitere Dosis Medikamente.«
»Mag sein, aber ich hab mir das nicht zusam-mengesponnen. Gibt’s auf der Station ein Komset?
Wir können’s uns zusammen ansehen.«
»Ja, klar, das würde es natürlich beweisen.
Wenn’s im Netz steht, muss es stimmen.«
»Das hab ich ja gar nicht behauptet. Es gibt einige von Fachleuten verfasste Artikel über die Stämme. Auf der sozialwissenschaftlichen Site von CBC wurde dem Thema letztes Jahr eine Titel-geschichte gewidmet.«
»Was du nicht sagst. Direkt neben den Videos über Plattfußindianer, wie?«
»Ich rede hier nicht über die Site von Colosseum Body Care , sondern über die der Canadian Broad-160
casting Corporation , Lucy. Komm, wir schauen’s uns an.«
Lucy tat so, als zöge
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