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Blick darauf werfen. Es gibt viele Möglichkeiten, mit seinen Freunden über das Netzwerk zu interagieren: Wir können gemeinsam mit ihnen in Simulationen eintauchen und uns mit Spielen vergnügen, chatten, einander Bilder schicken, Codes, Musik, lustige Artikel, jede Menge Pornos … Das ist erstklassige Interaktion! Klar, wenn man ständig hinter dem Schreibtisch hockt, anstatt bis zum Zimmer am anderen Ende des Ganges zu laufen, um den Kumpel zu fragen, wo er zu Mittag essen möchte, legt man jedes Jahr drei Pfund zu, aber das nimmt man gern in Kauf. Stellt euch jemanden vor, der einem Fisch auf dem Trockenen ähnelt, denn er wohnt in Arizona und ist sechzehn, während alle 154
Nachbarn mindestens fünfundachtzig Jahre auf dem Buckel haben. Allerdings kann der Junge über Fernsehen und Computer Milliarden von Kanälen empfangen. Das ganze gute Zeug – alles, was ihn anmacht – stammt von einer Clique supercooler Club-Kids, die im Süden Philadelphias wohnen.
Sie produzieren coole Kunst, coole Musik, coole Klamotten. Er hat ihre Mailing-Listen gelesen und weiß daher, dass sie genau die Leute sind, die ihn zu schätzen wüssten. In früheren Zeiten hätte er seine Sachen gepackt, wäre quer durchs Land ge-trampt und hätte sich ihrer Gemeinschaft ange-schlossen. Aber da er erst sechzehn ist, hat er vor einem solchen Schritt doch ziemliche Muffen.
Aber warum überhaupt umziehen? Diese Kids in Philly leben ja praktisch online. Beim Mittagessen, vor der Schule und die ganze Nacht hindurch kommunizieren sie miteinander, reden dummes Zeug, schicken Fotos rum, chatten. Online ist man unter seinesgleichen. Man kann in die Diskussionen einsteigen, bei den Spielen mitmachen und sich mit einer Hand einen runterholen, während man mit einem scharfen Mädchen in einigen tausend Kilometern Entfernung chattet. Nur klappt das nicht so, wie der Junge möchte. Denn diese Kids chatten um sieben Uhr morgens, während sie sich für die Schule fertig machen. Sie chatten um fünf Uhr nachmittags, während sie an ihren Haus-aufgaben sitzen. Ihre Online -Nacht endet um drei 155
Uhr früh. Aber all das ist deren Ortszeit, nicht die Zeit, nach der dieser Sechzehnjährige in Arizona lebt. Wenn er um sieben aufsteht, sind sie bereits in der Schule, denn dort ist es schon zehn. Also ändert er seine Schlafgewohnheiten, steht um vier Uhr früh auf, damit er mit seinen Freunden chatten kann. Geht um neun ins Bett, weil sie auch um diese Zeit – bei ihnen ist es Mitternacht – ins Bett gehen. Früher haben höchstens Börsenmakler, Journalisten und Fabrikarbeiter so gelebt, aber heute macht es jeder so, der nicht richtig in seine Umgebung passt. Die Genies und Wahnsinnigen, denen die örtlichen Gepflogenheiten zuwider sind. Sie wählen ihre Gefährten auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten aus, nicht nach geogra-fischen Gesichtspunkten, und passen ihren Tag-und Nachtrhythmus entsprechend an. Doch man muss auch gewisse Zugeständnisse an die örtlichen Gegebenheiten machen – zur selben Zeit wie alle anderen auf der Arbeit sein, zur Bank gehen, wenn Schalterzeiten sind, und einkaufen, wenn die Läden geöffnet haben. Am Ende schläft man kaum noch, macht mitten am Tag oder nach dem Abendessen heimliche Nickerchen und versucht, die biologischen Gebote mit den kulturellen in Einklang zu bringen. Unnötig zu erwähnen, dass einen das noch weiter von den Menschen zu Hause entfremdet und immer mehr in die Arme der Online-Freunde treibt. So entstehen die Stäm-156
me. Überall auf der Welt gibt es Menschen, die eigentlich Geheimagenten einer anderen Zeitzone sind, die Welt anders als ihre Mitmenschen sehen, einem anderen Zeitgeist anhängen. Anders als bei herkömmlichen Volksstämmen kann man seine Zugehörigkeit ganz leicht wechseln, indem man den Wecker einfach auf eine andere Zeit einstellt.
Wie bei allen Stämmen gilt die Loyalität der Mitglieder in erster Linie einander; alle, die nicht zum Stamm gehören, werden nur als halbe Menschen betrachtet. Das mag sich übertrieben anhören, aber darauf läuft es hinaus.
Stämme haben etwas Programmatisches, sie haben gemeinsame ideelle Grundlagen: eine bestimmte Ästhetik, eine bestimmte Ethik, gemeinsame Traditionen. Eine spezielle Art, die Dinge anzupacken. Und sie konkurrieren auch miteinander. Nicht alle basieren auf Zeitzonen. Manche Stämme befassen sich mit Strickarbeiten, sind Fans von Vampir-Romanen oder christlicher Rock-musik. Solche Stämme hat es schon immer gegeben und in den
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