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Titel: Upload Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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unmittelbaren Umgebung diejenigen aussuchte, mit denen man am ehesten übereinstimmte. Wenn man Glück hatte, lebten in der Nachbarschaft genügend Leute, mit denen man sich verstand. Als es noch kein Radio, Fernsehen und all diese Dinge gab, entstanden solche Freundschaften viel leichter als heute. In der Regel war man durch seine Erziehung so in den örtlichen Gepflogenheiten verwurzelt, dass man nicht einmal auf den Gedanken kam, sie in Frage zu stellen. War man zufällig ein Genie oder ein Psychopath, konnte es natürlich passieren, dass man völlig neue Anschauungen entwickelte. Und dann konnte man mit ein bisschen Glück Gesin-nungsgenossen um sich scharen. Oder man ging fort, wanderte beispielsweise nach Amerika aus, wo man eine kleine Kolonie von Gesinnungs-genossen gründen konnte. Doch das war eher die Ausnahme als die Regel. Meistens blieb den Leuten, die mit ihren Nachbarn nicht zurechtkamen, nichts anderes übrig, als bis zu ihrem Lebensende einsam und traurig herumzuhocken.«
    »Sehr interessant«, unterbrach mich der Arzt 151
    mit glatter Stimme, »aber eigentlich wollten Sie uns doch erzählen, wie Sie hier gelandet sind.«
    »Genau«, warf Lucy ein. »Wir sind hier nicht im Geschichtsunterricht, das ist die Gruppentherapie.
    Komm zur Sache, Schätzchen.«
    »Gleich. Ich muss ein bisschen weiter ausholen, damit ihr die Sache versteht. Also: Je leichter Ideen sich verbreiten können, desto größer die Chancen, anderswo eine Gruppe von Leuten zu finden, mit denen man zurechtkommt. Beispielsweise konnte man in der Zeit, in der mein Vater aufwuchs, als Schwuler in einer Großstadt leicht herausbekom-men, wo andere Schwule verkehrten und dort hin-gehen. Und dann«, ich fuchtelte mit den Händen herum, »war man einfach ein Schwuler unter anderen Schwulen, stimmt’s? Aber auf dem Land wussten die Leute vielleicht nicht einmal, dass es so was wie Homosexualität überhaupt gibt und hielten sie schlicht für pervers. Doch mit der Zeit machten die Schwulen in den Großstädten immer mehr Tamtam um ihre sexuellen Vorlieben. Und weil alle Neuigkeiten, die auf dem Land ankamen, aus den Großstädten stammten, drang auch diese Information bis in die Dörfer und Kleinstädte vor.
    Bald darauf zogen immer mehr Homosexuelle in die Großstädte und bildeten dort eine eigene Schwulenszene, denn hier galt das Schwulsein als völlig normal. Als die Neue Welt entstand und ihre Grenzen und Territorien absteckte, wuchsen die 152
    Informationen zu einer wahren Flut an. Es gab Telegrafen, den Pony-Express, Tausende von kleinen Zeitungen, die mit Zügen, Straßenbahnen oder Dampfern quer durchs Land befördert wurden.
    Und es dauerte nicht lange, bis jedermann selbst in Europa oder Asien wusste, welche Art von Menschen wo zu finden war. Die Leute wanderten in Nordamerika ein und suchten sich ihren Wohnort danach aus, mit welchen Menschen sie zusam-menleben wollten und welche Vorstellungen ihnen am meisten zusagten. Viele Entscheidungen waren religiös motiviert, aber das war nur die Oberfläche – darunter war alles eine Frage der Ästhetik. Man ließ sich irgendwo nieder, wo die Mädchen auf die Weise schön waren, wie es den eigenen Vorstellungen von Schönheit entsprach, wo das Essen nach Essen roch und nicht nach Ab-fall, wo die Läden Waren verkauften, die man kannte. Natürlich waren auch noch viele andere Faktoren mit im Spiel – Arbeitsmöglichkeiten, ras-sistische Gesetze, die Schwarze diskriminierten, was weiß ich. Aber der Sog von Menschen, die so sind wie man selbst, wirkt wie die Gravitation. Es gibt viele Dinge, die gegen die Schwerkraft arbeiten, aber am Ende gewinnt die Schwerkraft immer. Letztendlich finden stets die Leute zusammen, die einander am ähnlichsten sind.«
    Allmählich geriet ich in Fahrt, in jenen Zustand, den große Sportler gelegentlich erreichen, 153
    wenn sie genau wissen, wie sie den Schläger schwingen und wie sie ihre Füße aufsetzen müssen. Mir war klar, dass ich zu schwadronieren begann.
    »Und jetzt machen wir einen großen Sprung ins Zeitalter der E-Mails. Langsam, aber sicher kommt es dazu, dass wir fast die gesamte Kommunikation über Netzwerke abwickeln. Warum in ein anderes Zimmer gehen, um einem Kollegen eine Frage zu stellen, wenn man ihm einfach eine E-Mail schicken kann? Man muss ihn nicht unterbrechen und kann die eigene Arbeit fortsetzen.
    Und wenn jemand sich nicht mehr an die Antwort seines Kollegen erinnert, kann er die Nachricht einfach nochmals öffnen und einen

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