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unter einem der vergitterten Fenster standen. »Sie sind spät dran. Die haben schon ohne Sie angefangen.«
Vier Personen hatten dort Platz genommen: zwei Frauen, ein kleiner Junge und ein Arzt in Zivil, den man an seinen Schuhen (er trug keine Pantoffeln) und seiner Dienstmarke (dem obliga-torischen Namensschild am Trageband) erkennen konnte.
Zwar empfand ich solchen Widerwillen gegen diese »Gruppentherapie«, dass mein Herz heftig 147
klopfte, doch ich zog mich von dem immer noch kotzenden Mädchen zurück, ging zu der Sitzgrup-pe hinüber und blieb am Rande stehen. Der Arzt räusperte sich. »Liebe Gruppe, das ist Art. Schön, dass Sie’s hierher geschafft haben, Art. Sie sind zwar ein bisschen spät dran, aber wir haben gerade erst angefangen, deshalb ist es nicht weiter schlimm. Das sind Lucy, Fatima und Manuel. Warum setzen Sie sich nicht?« Seine Stimme klang professionell glatt und herablassend.
Als ich mich auf ein grell orangefarbenes Sofa fallen ließ, stieg eine Staubwolke auf, in der sich die durch das Fenster dringenden Sonnenstrahlen fingen. Außerdem stank dieses Sofa nach alten Fürzen, Kotze und Desinfektionsmitteln, ein parfum de asylum , das meine Nase nach und nach gegen alle anderen Gerüche auf der Station immun machte. Ich faltete die Hände im Schoß und versuchte ein aufmerksames Gesicht zu machen.
»Also gut, Art. Alle in dieser Gruppe sind noch ziemlich neu hier, deshalb brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, wenn Ihnen nicht gleich klar ist, wie wir die Sache angehen. Es gibt hier kein richtiges oder falsches Verhalten. Die einzigen Regeln sind, dass man niemanden beim Reden unterbrechen darf, und wenn man etwas kritisieren will, dann darf man nur den Gedanken kritisieren, nicht aber die Person, die ihn geäußert hat.
Alles klar?«
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»Ja, meinetwegen können wir gleich anfangen.«
»Na, das ist die richtige Einstellung«, sagte der Arzt betont herzlich. »Gut. Manuel hat uns gerade etwas über seine Freunde erzählt.«
»Das sind nicht meine Freunde«, entgegnete Manuel wütend. »Die sind doch schuld daran, dass ich hier bin. Ich hasse sie.«
»Fahr fort«, sagte der Arzt.
»Ich hab’s Ihnen doch schon gestern erzählt!
Tony und Musafir wollen mich aus dem Weg haben. Die können mit mir nicht mithalten, deshalb wollen sie mich aus dem Weg haben.«
»Wieso meinst du, dass sie mit dir nicht mithalten können?«
»Weil ich mehr drauf hab als sie – ich bin schlauer, hab die besseren Klamotten, bekomme die besseren Noten, schieße mehr Tore. Und die Mädchen mögen mich lieber. Deswegen haben die beiden was gegen mich.«
»Klar, du bist ja auch der Tollste überhaupt«, warf Lucy ein. Sie war etwa fünfzehn und außer-ordentlich dick. Beim Reden verzog sie die vollen Lippen zu einem höhnischen Grinsen.
»Lucy.« Der Arzt bedachte sie mit einem nach-sichtigen, gönnerhaften Lächeln. »Das ist nicht cool, kapiert? Kritisiere den Gedanken, nicht die Person, und das auch nur, wenn du an der Reihe bist, ja?«
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Lucy verdrehte die Augen so vielsagend, wie es nur Teenager können.
»Gut, Manuel, danke. Liebe Gruppe, habt ihr einen konstruktiven Vorschlag für Manuel?«
Eisernes Schweigen.
»Na gut! Manuel, manche von uns beherrschen dieses, andere jenes. Keiner ist auf jedem Gebiet ein Ass. Deine Freunde hassen dich nicht. Und wenn du gründlich darüber nachdenkst, wirst du bestimmt zu dem Ergebnis kommen, dass du sie auch nicht hasst. Haben sie dich nicht letztes Wochenende besucht? Erfolgreiche Menschen sind beliebt, und du bist keine Ausnahme. Wir reden morgen wieder darüber. Wie wär’s, wenn du dich bis dahin an drei Gelegenheiten erinnerst, bei denen deine Freunde dir bewiesen haben, dass sie dich mögen? Morgen kannst du uns dann davon erzählen, ja?«
Manuel starrte aus dem Fenster.
»Also gut. – Und jetzt heiße ich Art nochmals herzlich in der Gruppe willkommen. Sagen Sie uns, warum Sie hier sind.«
»Ich bin zur Beobachtung hier. Am Ende der Woche findet eine Anhörung zur Beurteilung meines Geisteszustands statt.«
Lisa prustete los, Fatima kicherte.
Der Arzt beachtete sie nicht. »Erzählen Sie uns doch bitte auch, warum Sie Ihrer Meinung nach hier drinnen gelandet sind.«
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»Wollen Sie die ganze Geschichte hören?«
»Alle Teile, die Sie für wichtig halten.«
»Es ist eine Stammesangelegenheit.«
»Verstehe.«
»Die Sache verhält sich folgendermaßen: Frü-
her fand man Freunde, indem man sich unter den Menschen seiner
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