Urangst
vermittelten einen Eindruck von der profunden Gnade, die immer dann darauf wartet, entdeckt zu werden, wenn der Lärm des Alltags verklingt.
Amy hatte das unbehagliche Gefühl, dieser ruhige, friedliche Moment könnte für lange Zeit der letzte dieser Art sein, den sie erleben würde, wenn nicht gar für immer.
Vielleicht hatte er sie auf der Terrasse gesehen, denn jedenfalls kam Barry Packard vom Meer herauf, und seine Hunde eilten ihm voraus.
Von den zahlreichen guten Eigenschaften der Packards bewunderte Amy keine so sehr wie das Mitgefühl, das sie bei der Wahl von Hunden an den Tag legten. Sie adoptierten nur Golden Retriever, die besondere Förderung brauchten und daher am schwersten dauerhaft unterzubringen waren.
Als ein Welpe von wenigen Wochen war Mortimer in einer Abfallgrube gefunden worden; jemand hatte ihn wegen seiner Spina bifida weggeworfen, einer angeborenen Missbildung der Wirbelbögen, die ihn von der Taille abwärts lähmte. Obwohl er wie Müll behandelt worden war, hatte er noch Glück gehabt, wenn man bedachte, dass man ihn durchaus in einem Eimer hätte ertränken können, bevor er zum Abfall geworfen wurde.
Nachdem er von drei verschiedenen Tierärzten gründlich untersucht worden war, hieß es, Mortimers Behinderung sei zu schwer, um ihn zu retten. Die Empfehlung lautete, ihn einzuschläfern.
In seinem ausdrucksvollen Gesicht und in seinem reizenden und fröhlichen Gebaren hatte Amy keine Beeinträchtigung gesehen, sondern, ganz im Gegenteil, eine heitere Seele.
Anfangs konnte Mortimer nicht auf den Vorderbeinen laufen, sondern nur sein Hinterteil voranschleifen. Eine Operation zur Entfernung seines hoffnungslos missgestalteten linken Hinterbeins, gefolgt von wochenlanger Therapie, hatte einen geschickten dreibeinigen Welpen hervorgebracht, der nicht nur laufen konnte, ohne sein Hinterteil nachzuschleifen, sondern sogar rannte . Dafür hatte er sich eine Gangart zugelegt, die ebenso sonderbar wie flink war.
Mortimer war jetzt fünf Jahre alt und als Therapiehund zugelassen. Millie brachte ihn in Kinderkrankenhäuser, um kranke und behinderte Kids zu besuchen, und jedes dieser
Kinder ließ sich von seinem Mut und seiner guten Laune beflügeln.
Daisy war blind. Sie ließ sich von Geräuschen, Gerüchen und ihren Instinkten leiten, aber sie blieb stets in Mortimers Nähe, denn er war ihr Busenfreund, dessen Führung sie sich bedenkenlos anvertraute.
Stufen führten den mit Eiskraut bewachsenen Hang hinauf, und der dreibeinige Morty und die blinde Daisy sprangen sie mit der Begeisterung von Goldens hinauf, die merken, dass Besuch da ist.
Normalerweise hätten ihre rasch peitschenden Ruten sie direkt zu Amy und Brian getrieben. Aber als sie von den Stufen auf die Terrasse sprangen und auf Nickie trafen, geschah etwas ganz Ungewöhnliches.
Morty erstarrte, Daisy erstarrte, ihre Ruten hielten plötzlich still, wurden aber nicht gesenkt, Köpfe wurden gereckt und Ohren leicht angehoben. Wie Fred und Ethel eilten auch diese beiden Goldens nicht zur üblichen Begrüßung unter Hunden auf Nickie zu.
Mortimer ließ sich auf den Bauch sinken und kroch unbeholfen die letzten Meter. Daisy, die intuitiv ahnte, was er getan hatte, folgte seinem Beispiel.
Als sie sie erreicht hatten, senkte Nickie den Kopf zu Mortimer und begann sein Gesicht so liebevoll zu lecken, als sei er ihr eigener Welpe.
Mit geschlossenen Augen und einem Ausdruck ekstatischer Verzückung ließ er das über sich ergehen, und seine Rute fegte über den Backsteinboden der Terrasse. Er unterließ es, ihre Küsse zu erwidern, und allein das war schon ein seltsames Benehmen.
Als Nickie nach einer halben Minute mit Morty fertig war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit Daisy zu und leckte auch ihr Gesicht, als sei sie eine Mutter, die für ein Neugeborenes
sorgt. Daisy schloss ihre blicklosen Augen und seufzte zufrieden.
Fred und Ethel hatten Abstand davon genommen, ihre alten Freunde zu begrüßen, als gälte in Nickies Gegenwart eine ganz neue Etikette. Sie standen in der Nähe und sahen nur gebannt zu.
Barry Packard, der direkt hinter seinen Hunden die Stufen hinaufgekommen war, beobachtete ebenfalls das seltsame Zeremoniell. Er war ein stämmiger Mann mit gewölbter Brust, auf dessen gute Laune stets Verlass war, und im Allgemeinen hatte er eine geistreiche Bemerkung parat, auf die ein Händedruck oder eine Umarmung folgte. Jetzt stand er stumm da und war sichtlich fasziniert von dem Verhalten der Hunde.
Millie hatte den
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