Urangst
mit diversen Anfallsleiden. Authentisch waren ausgebombte Hüllen von Gebäuden, Wohnhäuser voller Huren auf Crack und alles, was an Las Vegas erinnerte.
Billy liebte Las Vegas. Sein Traumurlaub, in dessen Genuss er nicht oft genug kam, sah so aus, dass er mit zweihunderttausend in bar nach Las Vegas flog, die Hälfte davon an den Spieltischen verlor, die Verluste zurückgewann, dann das gesamte Bündel Scheine verlor und einen Wildfremden umbrachte, den er auf seinem Weg aus der Stadt hinaus nach dem Zufallsprinzip auswählte.
In McCarthys ärgerlich sauberem Arbeitszimmer, das frei von jeder Neonbeleuchtung war, stöpselte Billy das Gehirn des Computers aus, trug es aus dem Zimmer und blieb neben der Wohnungstür stehen. Wenn er sich auf den Weg nach Santa Barbara machte, würde die Festplatte im Kofferraum seines Wagens liegen. Später würde er sie mit ätzender Flüssigkeit übergießen und verbrennen.
Der Architekt war angewiesen worden, seinen Laptop mitzunehmen. Dieses Gerät würde Billy zerstören müssen, nachdem McCarthy tot war.
Er ging wieder ins Arbeitszimmer, durchsuchte die Aktenschränke und fand die Ausdrucke sämtlicher E-Mails, die Vanessa dem Architekten im Lauf der letzten zehn Jahre
geschickt hatte. Obwohl der Papierkorb groß war, füllten ihn diese Papiere bis zum Überlaufen. Er stellte ihn ebenfalls neben die Wohnungstür.
Da McCarthy alte E-Mail-Ordner auf Disketten gezogen haben könnte, wenn er Updates an seinen Computern vornahm, durchsuchte Billy Kisten voller Disketten, fand aber nichts, das, nach den Etiketten zu urteilen, vernichtet werden musste.
Hier ging es darum, alles zu beseitigen, was die Polizei im Falle von McCarthys Verschwinden zu Vanessa führen konnte.
Im Arbeitszimmer und im Schlafzimmer suchte er nach einem Tagebuch, rechnete allerdings nicht damit, eines zu finden.
Billy Pilgrim hatte nicht nur zum Thema Literatur, authentische Einrichtung, Traumurlaub und zu vielen anderen Themen Theorien aufgestellt, sondern er hatte auch eine Theorie bezüglich Tagebüchern entwickelt.
Frauen neigten eher als Männer zu der Annahme, ihr Leben besäße genügend Sinn, und daher sei es notwendig, es Tag für Tag schriftlich festzuhalten. Meistenteils war unter »Sinn« jedoch nicht zu verstehen: »Gott leitet mich auf einer wundersamen Reise«, sondern eher: »Ich muss ich selbst sein, aber das interessiert keinen«, also Gefühlsduseleien, die sich als Sinn ausgaben, und im Allgemeinen hörten diese Frauen auf, ein Tagebuch zu führen, wenn sie auf die dreißig zugingen, weil sie von da an nicht mehr über den Sinn des Lebens nachgrübeln wollten, denn diese Grübeleien jagten ihnen tierische Angst ein.
Er fand kein Tagebuch in McCarthys Wohnung, aber dafür Dutzende von Zeichenblöcken voller Skizzen und detaillierter Zeichnungen, in erster Linie Porträts. Das legte die Schlussfolgerung nahe, dass der Architekt insgeheim
danach lechzte, nicht etwa Gebäude zu entwerfen, sondern stattdessen Künstler zu sein.
Bleistiftzeichnungen lagen unordentlich auf dem Küchentisch herum. Darunter war ein verblüffendes Porträt von einem Golden Retriever.
Billy war augenblicklich fasziniert von den Zeichnungen, da er folgerte, dass der Künstler während ihrer Anfertigung emotional aufgewühlt und in einem inneren Chaos gefangen gewesen war. Und wenn es um Chaos ging, war Billy ein echter Connaisseur.
Er stand am Tisch und blätterte die Bilder durch, und nach einer Weile stellte er fest, dass er auf einem Stuhl saß, ohne sich jedoch daran zu erinnern, dass er sich hingesetzt hatte. Die Wanduhr belegte, dass er sich mehr als fünfzehn Minuten in die Zeichnungen vertieft hatte, und dabei hätte er geschworen, es seien nur zwei bis drei Minuten gewesen.
Später, immer noch im Bann der Bilder, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass ihm Blut über das Gesicht rann.
Billy hatte keine Schmerzen. Verwundert hob er eine Hand und tastete seine Wangen und seine Stirn auf der Suche nach einer Wunde ab, die er nicht finden konnte. Als er auf seine Fingerspitzen hinuntersah, glitzerte eine durchsichtige Flüssigkeit darauf.
Er erkannte die Substanz. Es waren Tränen. In seinem Beruf brachte er andere manchmal dazu, Tränen zu vergießen.
Billy hatte seit einunddreißig Jahren nicht mehr geweint, seit er einen gewaltigen Roman von so überwältigender Brillanz gelesen hatte, dass sich seine letzten Reste an Traurigkeit und Mitgefühl für seine Mitmenschen erschöpft hatten. Leute
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