Urban Gothic (German Edition)
Freunden gegenüber niemals zugeben würde. Nicht einmal Javier gegenüber. Was sollten sie von ihr denken? Heather wusste nicht einmal sicher, was sie selbst davon hielt. Steph und Tyler waren seit weniger als einer Stunde tot, und sie befand sich in einem vermeintlich verlassenen Haus auf der Flucht vor den Mördern ... und wurde geil.
Javier ließ Heathers Hand los und entfernte sich von ihr, schlich den Flur hinab und bedeutete den anderen zurückzubleiben. Heather kaute auf der Unterlippe und sah ihm nach. Sie fühlte sich schlecht. Obwohl sie nicht wirklich gestritten hatten – im Fall von Javier sowieso ziemlich unmöglich, weil er stets nachgab –, hatte sie ihn in den vergangenen Tagen immer wieder frostigem Schweigen ausgesetzt. Sogar dann, wenn sie Zeit zusammen oder mit der Clique verbrachten. In letzter Zeit hatte er häufig die Zukunft angesprochen und Heather gefragt, was diese für sie bereithielt – ob es überhaupt eine gemeinsame Zukunft für sie gab. Heather verfolgte andere Ziele als er, und ganz gleich, wie oft sie ihm das erklärte, Javier schien es nicht zu verstehen. War es richtig? Nein. Verhielt sie sich unter Umständen wie ein Miststück? Ja. Spielte es eine Rolle? Nein. Was hatte es für einen Sinn, wenn sie nicht mit jemandem zusammen sein konnte, der dasselbe wollte wie sie?
Doch das alles spielte im Augenblick nicht die geringste Rolle. Nicht an diesem Ort.
Großer Gott, dachte Heather. Ich bin vollkommen durcheinander. Ich bin verängstigt. Ich bin beruhigt. Ich bin geil. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich wirklich bin.
Heather hörte Kerri schniefen. Sie drehte sich um und sah, dass sich ihre Freundin mit dem Ärmel die Augen abwischte. Brett starrte den Gang hinab in die Richtung, aus der sie gekommen waren – entweder, um Ausschau nach etwas zu halten, oder um Kerri ihre Intimsphäre zu lassen. Vielleicht auch beides. Heather wusste es nicht genau. Sie schlang die Arme um das andere Mädchen. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Kerri gab ein abgehacktes, gedämpftes Stöhnen von sich und umarmte sie innig. Ihr heißer Atem blies gegen Heathers Hals.
»Schhhh. Es wird alles gut. Javier schafft uns hier raus. Wir müssen bloß tapfer sein, okay?«
Mit einem Nicken schniefte Kerri erneut. Heather wiegte sie langsam hin und her und gab beruhigende Laute von sich, bis sich Kerri von ihr löste und ein Ruck durch ihren Körper zu gehen schien.
»Tut mir leid«, sagte Kerri und wischte sich die Nase ab. »Es ist nur so ... dich und Javier zusammen zu sehen ... dabei musste ich an Tyler denken ...«
Heather wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte, also schwieg sie lieber.
Dann gab Javier ihnen das Zeichen, nachzukommen. Sie schlichen durch eine offene Tür in einen weiteren Gang, der in die entgegengesetzte Richtung verlief. Wie im anderen Korridor baumelte auch hier eine Reihe Glühbirnen von der Decke.
Heather spähte in beide Richtungen und flüsterte: »Wohin?«
Schulterzuckend zeigte Javier mit dem Messer nach rechts. Sie setzten sich in Bewegung. Javier ging voran, gefolgt von Heather und Kerri. Brett trottete hinterher. Javier hielt das Messer vor sich. Die Lichter brachten die Klinge zum Funkeln. Heather verlagerte den Ziegelstein von der einen Hand in die andere. Er war schwer und allmählich schmerzten ihre Arme. Außerdem bekam sie durch die raue Oberfläche Blasen an den Fingern. Heather fiel auf, dass Kerri den Knüppel an ihrer Seite hinabbaumeln ließ, als habe sie vergessen, dass sie ihn trug.
»Äh, Leute?«
Bretts Stimme klang zittrig. Sie drehten sich um und stellten fest, dass er einige Meter hinter ihnen angehalten hatte.
»Wo sind wir reingekommen?«
»Durch den Vordereingang.« Kerri hörte sich verwirrt an.
»Nein«, entgegnete Brett. »Ich meine, in diesen Flur. Wo ist die Tür, durch die wir gerade gekommen sind?«
»Gleich hinter dir ...« Javier verstummte und schnaufte. Heather wollte ihn gerade auffordern, damit aufzuhören, Brett die Schuld an ihrer Notlage zu geben, und nicht ständig so ungeduldig mit ihm zu sein – doch dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle, an der sie hereingekommen waren.
»Seht ihr?« Brett deutete hin. Statt einer Tür, die in den anderen Korridor führte, befand sich dort nur eine Wand. »Die Tür ist verschwunden.«
»Was zum Teufel geht hier vor?«, flüsterte Javier.
Diesmal hörte Heather in seiner Stimme echte Angst, und einen Moment lang glaubte sie, dass nun Javier anfinge zu
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