Urban Gothic (German Edition)
ist, wir wissen einen Scheißdreck, und wir werden so lange einen Scheißdreck wissen, bis wir diesen Raum verlassen und uns weiter umsehen.«
»Du musst nicht gleich pampig werden.«
»Doch, Brett, muss ich. Weil es deine verdammte Schuld ist, dass wir überhaupt hier gelandet sind.«
»Kumpel, wahrscheinlich hast duʼs nicht mitgekriegt, aber ich musste erst unlängst mit ansehen, wie das Gehirn meiner Freundin überall verspritzt wurde!«
Javier trat näher auf ihn zu. »Was nicht passiert wäre, wenn ...«
Heather klopfte Javier auf die Schulter. »Das hilft uns nicht weiter.«
»Wir könnten einfach hier drinbleiben«, schlug Kerri vor. »Uns verstecken. Hier ist es dunkel. Das Licht draußen im Gang dringt nicht weit herein. Wir könnten an der hinteren Wand bleiben und uns verstecken, bis uns jemand rettet.«
Javier ließ sich Zeit mit einer Erwiderung und wählte seine Worte mit Bedacht. »Hört mal, wir sind hier auf uns allein gestellt. Niemand weiß, wo wir sind. Unsere Familien schlafen. Wahrscheinlich werden sie vor morgen früh gar nicht merken, dass wir nicht da sind. So lange bleibt uns womöglich gar nicht. Wir können uns auf niemand da draußen verlassen. Nur auf uns selbst.«
»Aber diese Gangtypen«, warf Kerri ein. »Irgendjemand muss doch die Polizei angerufen haben, als die uns verfolgten. Und irgendjemand wird Tylers Auto bemerken.«
»Das bezweifle ich. Die Karre ist inzwischen wahrscheinlich ausgeschlachtet. Und ich glaube nicht, dass wir hier in einer Gegend sind, in der Leute unbedingt die Polizei anrufen. Wir haben schon genug Zeit verschwendet. Während wir hier rumstehen und diskutieren, könnten die den Gang entlangkommen. Jeder sucht sich eine Waffe – irgendwas –, und dann nichts wie raus hier.«
Rasch durchsuchten sie das Zimmer. Als Ergänzung zu Javiers Messer und Kerris improvisiertem Knüppel fand Brett eine lange, gezackte Glasscherbe. Er riss einen Streifen von seinem T-Shirt ab und wickelte ihn um die Scherbe, um sich die Finger nicht aufzuschneiden. Dann hielt er das Glas wie einen Dolch. Heather entdeckte einen Ziegelstein. Sie trug ihn zimperlich, als wisse sie nicht recht, was sie damit machen sollte.
»Falls sie uns angreifen«, meinte Javier lächelnd zu ihr, »schleichst du dich von hinten an die Arschlöcher heran und haust ihnen auf den Kopf.«
Nickend erwiderte sie sein Lächeln. Dann jedoch fiel ihre Miene rasch wieder in sich zusammen.
»Komm her.« Er zog sie erneut dicht an sich und küsste sie auf die Stirn. »Pass auf, es wird alles gut. Ich schaffe uns hier raus.«
»Ich weiß. Ich glaube dir.«
»Und du kannst mit deinem Fuß wirklich laufen?«
»Ich denke schon.«
»Dann gehen wir.«
Er horchte an der Tür. Nachdem sich Javier davon überzeugt hatte, dass sich niemand im Gang aufhielt, öffnete er die Tür. Nach einem letzten Blick zurück zum toten Liliputaner führte er die anderen hinaus ins Licht.
Heather drückte die Hand ihres Freundes, als sie den Flur hinabschlichen und tiefer ins Haus eindrangen. Trotz allem, was sich ereignet hatte, fühlte sie sich mittlerweile erstaunlich ruhig. Das lag daran, dass sie Javier neben sich hatte. Seine Gegenwart tröstete sie. Allerdings überraschte sie die Veränderung, die er in der vergangenen Stunde durchgemacht hatte. Javier besaß zwar durchaus ein bestimmtes Auftreten, aber in der Regel gebärdete er sich als ruhigstes Mitglied ihrer Clique und traf selten Entscheidungen. Er ordnete sich meist dem unter, was ein anderer entschied – für gewöhnlich Tyler. Genauso verhielt er sich in ihrer Beziehung. Normalerweise gab er nach, wenn sie etwas wollte.
Aber jetzt ... Heather fragte sich, ob sie nun den wahren Javier zu sehen bekam. Selbstsicher. Herr der Lage.
Sie dachte darüber nach, wie er den Liliputaner getötet hatte. Javier hatte dabei emotionslos gewirkt wie jemand, der den Müll hinausbringt oder sonst eine banale Routineaufgabe erledigt. Teilweise konnte man das vermutlich seinem Schock zuschreiben, aber trotzdem ... es beunruhigte sie schon ein wenig. Es stimmte zwar, dass der kleine Mann sie wahrscheinlich umgebracht hätte, doch Javiers Handlungen wirkten unglaublich entschlossen. Wie selbstverständlich. Heather fand das etwas beängstigend. Und doch fand sie seine Gegenwart gleichzeitig beruhigend. Heather wusste, dass ihre widersprüchlichen Emotionen keinen Sinn ergaben, dennoch empfand sie so.
Und noch beängstigender fand sie, dass es sie antörnte.
Was sie ihren
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