Urban Gothic (German Edition)
der verwundete Angreifer flüchtete.
»Kerri?« Javiers Stimme. »Was ist?«
Sie versuchte zu antworten, brachte jedoch nur ein Heulen heraus. Mit zittriger Hand kramte sie in ihrer Tasche, holte ihr Feuerzeug hervor und zündete es an. Die Flamme flackerte. Brett, Heather und Javier starrten sie besorgt an.
»Was hast du?«, wiederholte Javier. »Was um alles in der Welt ist passiert?«
»Da ... da war etwas ... hier bei uns. Es hat mich gepackt. Zuerst dachte ich, es sei einer von euch, aber ...«
Sie konnte den Satz nicht beenden. Ihr drehte sich der Magen um. Kerri sank auf die Knie, ließ den Knopf des Feuerzeugs los, beugte sich vor und übergab sich. Von ihren Freunden vernahm sie erschrockene und bestürzte Laute, aber als sie etwas erwidern wollte, verkrampfte sich ihr Magen erneut. Durch den Gestank, der von ihrem Erbrochenen aufstieg, musste sie sich ein weiteres Mal übergeben. Javier, Brett und Heather zogen ihre Handys aus den Taschen und benutzten die Displays, um Licht zu spenden. Heather streichelte ihr über den Rücken, flüsterte beruhigende Worte und sorgte dafür, dass ihre Haare nichts abbekamen. Kerri verharrte noch einige Augenblicke und würgte. Schließlich kam sie wackelig auf die Beine und wischte sich den Mund ab.
»Bist du verletzt?«, wollte Brett wissen.
»Nein, ich ...« Hastig wandte sie sich ab und spuckte erneut.
»Tut mir leid«, sagte sie hinterher. »Ich bin nicht verletzt, aber es hat definitiv wehgetan – was immer es war. Ich glaube, ich habe der Kreatur die Zunge abgebissen.«
Sie richteten die Lichter auf den Boden und fanden münzgroße Blutflecken.
»Ich würde sagen, das hast du«, meinte Heather.
Kerri spuckte aus in dem Versuch, den grauenhaften Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ihre Zähne, ihre Zunge und die Innenseiten ihrer Wangen fühlten sich an, als seien sie mit Schleim überzogen.
»Kann man durch eine abgebissene Zunge verbluten?«, fragte Brett, ohne den Blick von den roten Tropfen zu lösen. »Ich frage mich, wie schlimm der verletzt ist.«
»Bleiben wir besser nicht, um es rauszufinden«, gab Javier zurück. »Kommt.«
Rasch schoss er mit der Handykamera ein Foto des Gangs, dann schlich er weiter. Kerri hob den Knüppel auf und folgte mit Heather. Brett rührte sich nicht von der Stelle.
»Wartet.«
»Was ist denn jetzt wieder?«, fragte Javier, in dessen Stimme sich Verärgerung einschlich.
Brett schob seine Brille die Nase hoch. »Wir wollen doch nicht wirklich in die Richtung, oder?«
»Einen anderen Weg gibt es nicht.«
»Ja, aber was immer Kerri angegriffen hat, ist auch da langgegangen.«
»Gut«, gab Javier zurück. »Wenn es noch nicht tot ist, bringen wir zu Ende, was Kerri angefangen hat, falls wir dem Biest über den Weg laufen.«
Er setzte sich in Bewegung. Die Mädchen folgten. Seufzend trottete Brett hinter ihnen her.
Als das Feuerzeug wieder heiß wurde, steckte Kerri es zurück in die Tasche. Ohne die Flamme wirkte die Dunkelheit noch dichter. Die Mobiltelefone konnten die Finsternis kaum erhellen. Soweit Kerri erkennen konnte, gab es entlang dieses Korridors keine Räume. Nur durchgehende Wandfläche.
Javier hielt inne und starrte in die Finsternis vor ihnen. Die anderen folgten seinem Beispiel.
»Das fühlt sich nicht richtig an«, murmelte er. »Von hier zweigen keine Türen ab. Keine Zimmer. Der Gang verläuft einfach nur geradeaus. Wenn Kerris Angreifer hier entlanggekommen ist, frage ich mich, wohin er verschwunden ist.«
»Sag ich doch«, meldete sich Brett zu Wort. »Wir sollten umkehren.«
»Können wir nicht«, erinnerte ihn Kerri. »Schon vergessen? Das andere Ende des Gangs ist blockiert.«
Brett sagte nichts. Heather verdrehte die Augen.
Javier fluchte erneut auf Spanisch. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen, Leute. Ich schlage vor, wir laufen einfach weiter. Mal sehen, wohin der Gang führt.«
Ohne ein weiteres Wort bewegte er sich wieder den Korridor entlang. Nach kurzem Zögern folgten ihm die anderen. Kerri schob die Hand in die Tasche, aber bei dem Versuch, das Feuerzeug herauszuholen, hätte sie sich fast die Finger verbrannt. Der Boden unter ihren Füßen veränderte sich, wurde uneben. Die Bretter fingen an, bei jedem Schritt zu knarren und zu ächzen. Ihr Tempo verlangsamte sich, sie schlichen beinahe auf Zehenspitzen.
Der dunkle Flur endete an drei Türen – eine unmittelbar vor ihnen, jeweils eine links und rechts davon. Alle standen sperrangelweit offen. Hinter jedem Durchgang
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