Urban Gothic (German Edition)
verpufften diese Gedanken und wurden von unmittelbareren Ängsten verdrängt. Sie hörte von unten die Geräusche schwerer, stapfender Schritte. Kerri hielt den Atem an, weil sie fürchtete, zu brüllen, wenn sie es nicht tat. Die feinen Härchen an ihren Armen und in ihrem Nacken richteten sich auf, als ihr durch den Kopf ging, was die Geräusche verursachen mochte. Sie hatte eine ziemlich klare Vorstellung. Die Schritte klangen genau wie die Gestalt – die Bestie –, die Tyler und Stephanie getötet hatte. Laut Brett nannte sich der Mann Noigel. Sie wusste zwar nicht, was das für ein Name sein sollte, doch sie wusste, dass er sich in diesem Moment dort unten befand. Und als Heather sich umdrehte und sie mit geweiteten Augen ansah, zitternd im unheimlichen Schimmer des Handys, da wusste Kerri, dass ihre Freundin dasselbe vermutete. Kerri schauderte, als sie an seine Müllsackkleidung und den aufgedunsenen, entzündeten Penis zurückdachte, von dem Eiter tropfte.
Die Schritte kamen fast direkt unter ihnen zum Stehen. Dann stöhnte Noigel, falls es sich denn tatsächlich um ihn handelte, tief und kläglich. Er klang traurig. Der Laut wurde höher und lauter, schwoll zu einem gequälten Schrei an. Der Kriechtunnel vibrierte, als Noigel seiner Wut Ausdruck verlieh. Brett streckte den Arm aus und drückte mit der unverletzten Hand Kerris Fußgelenk. Heather presste die Lider zusammen und kaute auf einer Haarsträhne. Javier verharrte regungslos. Kerri stieg ein anderer Geruch in die Nase – derselbe Gestank von saurer Milch, vermischt mit Ausscheidungen und Schweiß, den sie wahrgenommen hatte, als sie in der Diele von Noigel angegriffen worden waren. Damit bestand für sie kein Zweifel mehr, dass sich Tylers Mörder unmittelbar unter ihnen aufhielt, verärgert und fest entschlossen, seine Aufgabe zu Ende zu bringen. Und das bedeutete, dass sie nicht allzu viel Boden gutgemacht hatten.
Die Zeit schien stillzustehen. Die bekümmerten, wütenden Schreie hielten an. Etwas prallte heftig gegen die Wand, erst einmal, dann ein zweites Mal. Kerri wurde klar, dass Noigel um sich schlug. Dem Klang nach hämmerte er Löcher in die Wände. Sie hörte das Bröckeln von Putz und das Poltern von Geröll. Dann hielt die Kreatur inne und verstummte. Kerri wünschte sich inständig, er möge verschwinden. Stattdessen nieste Noigel dreimal – gewaltige, feuchte Explosionen, die sich wie Gewehrschüsse anhörten. Darauf folgte eine Reihe kehliger Schnieflaute. Schließlich entfernten sich die Schritte langsam. Dabei murmelte die Kreatur leise vor sich hin. Der widerliche Gestank verflog allmählich.
Er hat die Leiche gefunden, dachte Kerri. Noigel hat die Liliputanerleiche gefunden und ist aufgebracht darüber. Der war ja von Anfang an schon durchgeknallt, aber jetzt sind wir doppelt geliefert. Ich habe seine Freundin umgebracht .
Langsam ließ Brett Kerris Fußgelenk los, als die donnergleichen Schritte verhallten. Sie drehte sich um und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er erwiderte die Geste, allerdings wirkte sein Gesichtsausdruck dabei kraftlos, und er schien noch blasser geworden zu sein. Kerri drehte sich zurück nach vorn und sah, wie Heather Javier mit dem Fuß anstupste. Er hob eine Hand, um ihnen zu signalisieren, dass sie sich nicht rühren und still verhalten sollten.
Das Warten gestaltete sich schlimmer, als es Kerri für möglich gehalten hätte. Obwohl sich Heather, Brett und Javier als moralische Stützen in der Nähe befanden, konnte sie nur den Geräuschen des Hauses lauschen, während sie in der Finsternis kauerten und warteten. Jedes Knarren, jedes Ächzen, ganz gleich wie leise, ließ sie zusammenzucken, weil sie jeden Laut als Anzeichen wertete, dass der Mörder zurückkehrte. Sie wusste, dass nicht viel Zeit verstrich, dennoch fühlte es sich wie Stunden an. Ihr Geist schwamm haltlos, wurde von zusammenhanglosen Gedanken und widerstreitenden Emotionen geflutet. Sie hatte Angst, war wütend. Sorgte sich um Brett. Empfand Verzweiflung wegen Tyler und Steph. Am liebsten hätte sie laut gebrüllt, bis der Mörder sie fand, und sei es nur, damit er sie von ihrem Elend erlöste. Sie wollte flüchten, sich an ihren Freunden vorbeidrängen, würde sie sogar zurücklassen, wenn es ihr das Überleben sicherte. Genauso stark regte sich der Drang, sich zu verstecken – irgendwo in diesem Haus des Grauens einen dunklen Winkel zu finden und einfach dort zu bleiben, bis Hilfe eintraf. Und am meisten von allem
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