Urban Gothic (German Edition)
medizinische Hilfe zu besorgen. Angesichts der widrigen Umstände hatte sie ihm den Druckverband ganz ordentlich angelegt, doch ihr medizinisches Wissen beschränkte sich auf das, was sie sich bei Dr. House abgeschaut hatte.
Sie stellte fest, dass sie Brett nicht als Einzige besorgt anstarrte. Alle taten es. Auch Brett musste es aufgefallen sein, denn er schüttelte kläglich den Kopf.
»Herrgott, Leute«, murmelte er. »Noch bin ich nicht tot. Seht mich nicht so an.«
Javier legte Brett eine Hand auf die Schulter.
»Keine Sorge, Kumpel. Wir schaffen dich hier raus.«
»Ich weiß.«
»Hör mal«, fuhr Javier fort. »Was ich vorher darüber gesagt habe, dass alles deine Schuld ist und so ... das tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint. Du bist klug, gehst die Dinge immer logisch an. Ich bin froh, dass du bei uns bist – gut möglich, dass wir dein Gehirnschmalz noch brauchen, um hier rauszukommen. Also noch mal, es tut mir leid.«
Brett zuckte unter Schmerzen zusammen. »Schon gut, Mann, ehrlich. Du hattest Angst und warst aufgebracht. Ich weiß, dass du’s nicht so gemeint hast.«
»Also alles klar zwischen uns?«
»Alles bestens.«
Nickend wandte sich Javier an die Mädchen. »Gehen wir, bevor Noigel oder seine Freunde zurückkommen. Kerri, du bist das Schlusslicht. Halt hinter uns die Augen offen. Und die Ohren, falls sich jemand anzuschleichen versucht. Brett, du bleibst zwischen uns, in Ordnung?«
Kerri holte tief Luft und umfasste den Knüppel fester. Das gerinnende Blut der Liliputanerin schimmerte auf dem Nagel, der aus dem Holz ragte. Sie schaute sich um. Wie in den meisten Räumen fehlte jegliche Möblierung. Es gab nur eine Tür mit Spritzern, die nach altem Blut aussahen. Die Wände und Sockelleisten wiesen Rattenlöcher auf. In den Winkeln breitete sich schwarzer Schimmel in grotesken Spiralmustern vom Boden bis zur Decke aus. Tote Fliegen und Rattenkot übersäten den blanken Boden. Sie hatte darauf spekuliert, dass irgendwo ein Stuhl oder ein Tisch herumstand, etwas, woraus sie eine bessere Waffe als den Gürtel improvisieren konnten, doch es gab nichts. Vermutlich hätten sie von den wasserfleckigen Wänden Teile der Täfelung ablösen können, doch die taugten nicht zu einer sonderlich effektiven Waffe.
Javier öffnete mit der linken Hand die Tür. Die Angeln quietschten widerwillig, und er legte angesichts des Geräuschs die Stirn in Falten. Mit der Rechten hatte er ausgeholt, den Gürtel um die Finger gewickelt. Die Schnalle baumelte wie eine kurze Peitsche herunter. Sie eilten den Flur hinab, bewegten sich so rasch und leise wie möglich, liefen durch das Haus zurück. Als sie den Raum passierten, in dem Javier den ersten Liliputaner getötet hatte, huschte er hinein. Als er zurückkam, wirkte seine Miene besorgt.
»Was ist?«, fragte Heather.
»Die Leiche ist weg.«
»Welche Leiche?«
»Die von dem Zwerg, den wir getötet haben, bevor uns Brett gefunden hat. Ich hab sie da drin versteckt, hinten in den Schatten. Jetzt liegt sie nicht mehr da.«
»Vielleicht hat er noch gelebt«, schlug Brett vor.
Javier schüttelte den Kopf. »Nein. Unmöglich. Ich hab dafür gesorgt, dass er tot ist. Noigel oder einer der anderen muss ihn gefunden haben.«
»Vielleicht ist das ja ganz gut«, meinte Kerri.
»Wie um alles in der Welt kann das gut sein?«
Kerris Stimme klang aufgeregt. »Weil Noigel dann weiß, dass wir mindestens zwei seiner Freunde umgebracht haben. Vielleicht findet er, dass wir damit quitt sind. Oder er gelangt zu dem Schluss, dass wir gefährlicher als ihre übliche Beute sind, und lässt uns gehen.«
Javier starrte sie eindringlich an. »Glaubst du das wirklich, Kerri?«
Ihre Züge fielen in sich zusammen. »Nein.«
»Ich glaube nicht mal, dass Noigel intelligent genug ist, um so zu denken«, erklärte Brett. »Soweit ich das mitbekommen habe, könnte er geistig zurückgeblieben sein.«
»Ach, meinst du wirklich?« Heathers Tonfall klang sarkastisch. »Ich würde sagen, er ist mehr als zurückgeblieben. Ich würde eher behaupten, er ist beschissen verrückt. Zurückgebliebene Menschen laufen nicht rum und schlagen anderen den Schädel ein.«
Kerri rang ein Schluchzen nieder, als erneut Bilder von Tylers Tod in ihrem Bewusstsein aufflackerten.
»Halt die Klappe, Heather«, flüsterte Brett. »Das hilft uns nicht weiter.«
»Seh ich auch so«, pflichtete Javier bei. »Kommt, lasst uns weitergehen.«
Ohne ein weiteres Wort führte er die anderen den Gang entlang.
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