Urban Gothic (German Edition)
den pochenden Schmerzen ab, die durch seinen Arm und seinen gesamten Körper schossen. Er war gerade gegen ihren Hintern geprallt – ein angenehmes Versehen – und entschuldigte sich dafür, als aus der Finsternis das erste Heulen hervordrang.
Plötzlich musste er dringend pinkeln. Der Druck auf seine Blase überlagerte beinahe die Qualen, die von den Stümpfen seiner abgetrennten Finger ausgingen.
Brett hatte den anderen nichts davon gesagt, aber er hatte Probleme mit dem Sehvermögen. Er konnte zwar noch etwas wahrnehmen, aber nur in verwaschenen Graustufen. Dämmrige Schwarz-Weiß-Bilder, denen sowohl Details als auch Farben fehlten. Er wusste, dass es sich teilweise auf seine Verletzungen sowie die tief reichende Lethargie und Erschöpfung zurückführen ließ, die ihn seit der Flucht aus dem Korridor befallen hatten. Die nahezu völlige Finsternis im Keller trug ebenfalls dazu bei. Ihm gefiel Javiers Idee nicht, nur ein Handy als Lichtquelle zu benutzen, aber er hatte sich wie die Mädchen stillschweigend damit abgefunden, weil Javier unbestreitbar das Kommando übernommen hatte. Brett kümmerte es nicht. Sollte er ruhig. Logik mochte beim Schachspielen helfen, doch in diesem Haus kam sie vergeblicher Liebesmüh gleich. Nichts an diesem Ort ließ sich logisch erklären.
Seine Augen hatten sich endlich so weit an die Lichtverhältnisse angepasst, wie sie es vermutlich konnten, als hinter ihnen die Tür krachend aufschwang und das Licht aus der Küche die Treppe herabflutete. Da Brett am hinteren Ende der Gruppe und somit den Stufen am nächsten stand, wurde er kurzzeitig geblendet, als seine Augen die jähe Veränderung zu bewältigen versuchten. Er lauschte den Schritten, dem seltsamen, entsetzlichen Geheul, das sowohl vor als auch hinter ihnen ertönte, und bemühte sich, nicht zu schreien.
»Was sollen wir tun?«, kreischte Heather mit Panik in der Stimme. »Javier?«
Sofern er sie gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Javier schwieg, schien vor Angst und Unentschlossenheit wie gelähmt zu sein.
Unser furchtloser Anführer schwächelt, dachte Brett. Und Heather hat recht. Wir sind so was von im Arsch .
Die Logik gebot, dass sie flüchteten – nur wohin? Während das Geheul näher kam, beschleunigten sich die Schritte hinter ihnen. Die Treppe klang, als erzittere sie. Kerri sagte etwas, aber durch den anschwellenden Lärm konnte Brett sie nicht verstehen. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen glichen zwei weißen Flecken in den schattigen Gesichtszügen. Ihre Hand legte sich einen Moment lang auf seine Brust. Sie krallte sich in sein T-Shirt und schluchzte. Brett nickte, als ihm klar wurde, was getan werden musste. Seine Angst verpuffte, als er sich mit dem Unvermeidlichen abfand. Auch nicht schwieriger, als eine komplizierte mathematische Gleichung zu lösen.
Kerri verdiente es nicht, hier zu sein. Sie hatte bereits genug durchgemacht. Er konnte ihr ansehen, wie schwer ihr Tylers und Stephanies Tod zusetzten. Sein Gesicht rötete sich vor Zorn. Kerri war ein wunderbares, süßes Mädchen, und er wollte nicht, dass sie noch mehr verletzt wurde. Ein zierliches Persönchen, das er bis zu diesem Tag für zu schwach gehalten hatte, um sich zu verteidigen. Natürlich widerlegte sie diese Einschätzung in dem Moment, als sie auf die Kreatur losging, die ihm die Finger abgebissen hatte. Bei dem Kampf hatte Brett einen flüchtigen Blick auf die in Kerri schlummernde, an die Oberfläche drängende Stärke erhascht. Eine solche Stärke verdiente es, weiterzuleben. Kerri hatte der Welt noch zu viel zu bieten. Sie durfte nicht in dieser Jauchegrube enden. Deshalb musste jemand ihr – und den anderen – eine Chance zur Flucht bieten. Und zwar er. Eine absolut logische Schlussfolgerung. Neben seiner schweren Verwundung befand er sich im Schockzustand und hatte eine Menge Blut verloren. Es ließ sich unmöglich abschätzen, wie viele Infektionen er sich bereits eingefangen hatte, und die Aussichten darauf, je ein Krankenhaus zu erreichen, schwanden mit jeder verstreichenden Sekunde.
Es musste ihn treffen.
Schach und matt.
All das ging ihm innerhalb von Sekunden durch den Kopf. Natürlich sprach Brett es nicht laut aus. Kerri, Javier und Heather hätten ihn ohnehin nicht hören können, selbst wenn er es ihnen gesagt hätte. Das seltsame Gefühl der Ruhe breitete sich weiter in ihm aus. Die durch seinen Körper tobenden Schmerzen zogen sich zurück, wichen einem gedämpften Pulsieren, fast wie das
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