Urban Gothic (German Edition)
Summen einer Mücke vor seinem Gesicht – zu bedeutungslos, um sich damit abzugeben, höchstens ein kleines Ärgernis.
Noigels Schritte polterten über den Kellerboden. Jeder einzelne hallte wie ein Gewehrschuss wider. Brett drehte sich ihm zu und wünschte sofort, er hätte es nicht getan. Für den Bruchteil einer Sekunde wäre seine Entschlossenheit beinahe zerbröckelt. Noigel zeichnete sich als gewaltiger Schemen in der Dunkelheit ab. Er schien auf sie zuzuschweben. Brett konnte den riesigen, mit einer Hand umklammerten Hammer ausmachen. Abgesehen von den Schritten bewegte sich der Hüne leise vorwärts. Er gab keine Schreie, kein Geheul mehr von sich. Brett konnte nicht einmal seine Atmung hören.
Er wappnete sich, rührte sich nicht von der Stelle und wagte einen Blick nach hinten. Mehrere menschenähnliche Erscheinungen rückten aus der Dunkelheit näher. Im Gegensatz zu Noigel verhielten sie sich alles andere als leise. Ihr wildes Geschrei steigerte sich eher noch, je näher sie kamen. Im matten Schein von Javiers Mobiltelefon konnte Brett kaum etwas von ihnen erkennen, nur die unterschiedlichen Konturen und Größen ihrer Körper. Einige entsprachen von der Statur her einem gewöhnlichen Menschen, andere schienen kleinwüchsig zu sein, so wie das Wesen, das ihn angegriffen hatte. Ein paar ragten so hoch auf wie Noigel, wirkten aber dünn und schwächlich, statt seine Körperfülle zu besitzen. Einer schien unvorstellbar fettleibig zu sein und watschelte von Seite zu Seite wippend voran. Sie alle verband eine Gemeinsamkeit: Selbst in der Düsternis ließen sie sich als brutal aussehende, raubtierhafte Ausgestoßene ausmachen, die sich langsam und mit einer geradezu greifbaren Selbstsicherheit näherten, sich dabei Zeit ließen und untereinander darum wetteiferten, die beste Ausgangsposition zu ergattern.
Vermutlich lag es an ihrem Aussehen, dass Javier seine Benommenheit abschüttelte, womöglich auch an Kerris und Heathers panischen, flehentlichen Schreien. Was immer die Ursache sein mochte, Brett sah, wie eiserne Entschlossenheit in die Züge seines Freundes zurückkehrte. Javier klappte das Handy zu und steckte es in die Tasche. Zuerst verstand Brett nicht, weshalb, dann jedoch erklärte es Javier.
»Wir rennen geradewegs an ihnen vorbei«, sagte er. »Vor uns ist ein Tunnel. Das muss der Weg nach draußen sein.«
»Bist du verdammt noch mal irre?«, kreischte Heather.
»Das ist die einzige Möglichkeit. Wir laufen in der Dunkelheit. Sie können uns nicht sehen, wenn es kein Licht gibt.«
Brett stieß Kerri mit der heilen Hand vorwärts. »Los! Verschwindet. Verduftet schleunigst. Ich lenke sie ab. Lauft!«
Kerri zuckte bei jedem Wort zusammen, als habe er sie geschlagen. Sie starrte an ihm vorbei und beobachtete, wie sich Noigel im grellen Schein der Küchenbeleuchtung näherte. Der Blick ihrer geweiteten Augen wirkte wild und verängstigt, die Lippen fletschte sie zu einer animalischen Grimasse, die allzu sehr an die Freaks erinnerte, von denen sie bedroht wurden.
Dann lachte Noigel. Das Geräusch dröhnte tief und kehlig durch den Keller wie die Einschläge von Artilleriegeschossen.
Bretts Entschlossenheit zerbarst. Gedanken an Logik, Opferung und Heldentum verpufften, als er Kerri erneut vorwärtsstieß. Er vergaß ihre verborgenen und bemerkenswerten Reserven an Tapferkeit und Stärke, vergaß sein Mitgefühl für sie. Er war kein Held, hatte nie zu jenen gehört, die erst an andere, dann an sich selbst dachten. Das lag nicht in seiner Natur. Tatsächlich dachte er weder an Kerri noch an die anderen, als er sie ein drittes Mal schubste. Er versuchte lediglich, sie alle in Bewegung zu halten, weil ihm seine Instinkte zur Flucht rieten und es keine Möglichkeit gab, sich an ihnen vorbeizudrängen, ohne auf dem Hintern zu landen. Der Druck auf seine Blase nahm weiter zu. Er ließ es laufen und fühlte, wie die Vorderseite seiner Hose warm und nass wurde.
Brett nahm Noigel bewusst wahr, als der Koloss hinter ihm auftauchte und stehen blieb. Die gewaltige Gestalt des Wahnsinnigen blockierte das restliche Licht. Der abscheuliche Gestank, der von ihm ausging, war überwältigend und verdichtete sich um Brett wie Rauch. Brett drehte sich nicht um. Er konnte es nicht. Seine Füße fühlten sich wie in Beton eingegossen an. So starrte er stur geradeaus und beobachtete Kerris Gesichtsausdruck, als sie über seine Schulter schielte, die Augen unmöglich weit aufgerissen, der Mund zum Schreien
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