Urban Gothic (German Edition)
hinein, kniff die Augen gegen die Helligkeit zusammen und stellte fest, dass die Beleuchtung von einer alten Kerosinlaterne ausging, die über dem Tisch hing. Die Flamme war gedrosselt, trotzdem kräuselte sich öliger Rauch. Das erklärte den Geruch von Salz und Chemikalien, den sie zuvor bemerkt hatte.
Die meisten Zettel auf dem Tisch wurden von improvisierten Briefbeschwerern an Ort und Stelle gehalten. Obwohl kaum Luftzug herrschte, wehte die Rauchfahne zur hinteren Wand und wurde dort von der Öffnung verschluckt.
Heather wusste nicht, wie lange die Kammer verwaist bleiben würde. Gut denkbar, dass die Verfolger ihr nach wie vor auf den Fersen waren. Rasch blätterte Heather die Zettel durch, um nach Informationen zu suchen, die ihr weiterhelfen konnten. Das Papier knisterte, als sie es berührte. Heather runzelte die Stirn. Was da stand, ergab keinen Sinn. Es schien nicht mit Tinte, sondern mit Schlamm geschrieben zu sein ... oder mit Blut. Die Schrift selbst erwies sich als primitiv und unleserlich. Heather schob die Bögen beiseite und suchte nach etwas, das sich als Waffe benutzen ließ. Mehrere alte Fotos fielen zu Boden. Sie bückte sich und betrachtete sie. Zerknitterte und verblichene Abzüge, dennoch konnte sie deutlich Gesichter und Häuser im Hintergrund erkennen. Nach der Kleidung der Personen zu urteilen, stammten die Aufnahmen wohl aus den 1930er-Jahren. Die Häuser erinnerten sie an das alte Gemäuer, in das sie sich heute Nacht gewagt hatten, nur eben im Neuzustand. Einige der Bilder schienen sogar exakt dieses Gebäude zu zeigen.
Heather legte die Abzüge zurück auf den Tisch. Dann schüttelte sie den Kopf und kniff einen Moment lang die Augen zu. All das ergab keinen Sinn. Die Fotos. Die Kammer. Dieses Haus voller Fallen. Die Höhlen. Die Mörder. In Filmen gab es letztlich immer irgendeine Erklärung, doch hier im wahren Leben fehlte es bislang an Antworten. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre Freunde abgemurkst wurden, und wusste immer noch nicht, warum ... oder von wem.
Da sie sich in einer Höhle aufhielt, kam Heather der Gedanke, dass sie sich womöglich nicht mehr direkt unter dem Haus befand. Trotz der enormen Tiefe bestand vielleicht die geringe Chance, mit dem Mobiltelefon ein Signal zu empfangen. Nachdem das Licht des Displays aktuell keine Gefahr darstellte, zog sie das Gerät aus der Jeans und öffnete es. Kein einziger Balken. Sie wählte trotzdem die Notrufnummer. Nach einem kurzen Piepen wanderte die Anzeige KEINE VERBINDUNG MÖGLICH als Lauftext über den Bildschirm. Seufzend lichtete Heather mit der Handy-Kamera den Zettel, die Fotos und die Kammer ab. Sie erinnerte sich an Javiers Vorschlag, so viel wie möglich zu dokumentieren, um es nach ihrer Flucht den Behörden zeigen zu können. Er würde stolz darauf sein, dass sie daran gedacht hatte, falls und wenn sie sich wiedersahen. Heather biss sich auf die Unterlippe, fotografierte weiter und steckte das Handy anschließend weg. Sie wollte den Akku schonen, zumal ihr vorläufig eine andere Lichtquelle zur Verfügung stand.
Heather kramte noch etwas länger in den Papieren herum und entdeckte ein angelaufenes Buttermesser, das jemand spitz zugeschliffen hatte. Viel war das nicht, doch es genügte, dass sie sich ein wenig besser fühlte. Neben dem Messer stieß sie auf einige merkwürdige Zeichnungen – grobe Skizzen der menschlichen Anatomie sowie Szenen von Folter und Verstümmelung. Alle wiesen dieselbe primitive Anmutung auf. Sie wirkten wie das Werk eines bösartigen, verrückten Kindes.
Bevor sie eingehender darüber nachdenken konnte, vernahm sie ein fernes Husten. Das Geräusch hallte durch den Tunnel, aus dem sie gekommen war. Rasch ergriff sie das Buttermesser und hob die Kerosinlampe vorsichtig vom Haken an der Wand. Ein kleiner Knauf am Sockel der Laterne sorgte für die niedrige Flamme. Heather drehte ihn nach rechts. Der Docht stieg höher, fing Feuer und ließ die Flamme in der Laterne heller lodern. Dichter, schwarzer Rauch stieg in den Abzug der Lampe.
Zufrieden eilte Heather zum Spalt am hinteren Ende der Höhle. Es versprach eng zu werden, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie kniete sich hin, schob sich in die schmale Öffnung und kroch vorwärts. Ein weiterer Tunnel. Die Lampe zischte und flackerte, als sie wiederholt hin- und hergeschüttelt wurde. Die Wände schienen Heather erdrücken zu wollen und an einigen Stellen musste sie sich durch vorstehende Steinformationen zwängen. Trotz der Enge
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